Amarnath Yatra – eine Pilgerreise zum Ort der Unsterblichkeit

«Flower like the heels of the wanderer,

His body growth and is fruitful;

All his sins disappear,

Slain by the toil of his journeying.»

(Aus dem Rig Veda, zit. nach Bhardwaj, 1973, 3)

Einleitung

Pilgerreisen (Yatras) haben in Indien während den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen, selbst an solchen zu entlegenen heiligen Orten im Himalaya nehmen immer mehr Pilger (Yatris) teil. Eine der eindrücklichsten Yatras im Hochgebirge ist diejenige zum Ort der Unsterblichkeit, die Amarnath Yatra, die im Folgenden beschrieben wird.

Die Times of India erwähnte in der Ausgabe vom 11. August 2023, dass rund 428’000 Pilger im selben Jahr an der Amarnath Yatra teilgenommen haben. Bei dieser Reise ist der wichtigste Tag jeweils bei Vollmond im Monat Sravan (Juli/August) – ausgerechnet dann, wenn der Monsun seinen Höhepunkt erreicht. Ab und zu gibt es deshalb wetterbedingte Tragödien auf dem tagelangen Treck zum Heiligtum. Das schlimmste Ereignis fand 1996 statt, als rund 250 Menschen, die in einen schweren Schneesturm geraten waren, nur noch tot geborgen werden konnten. Dazu kamen im politisch sensiblen Grenzgebiet zu Pakistan mehrmals terroristische Attacken, welche weitere Menschenleben unter den Pilgern forderten. Was ist es, das trotz all der Strapazen und Gefahren so viele Pilger dazu bewegt, die Pilgerreise zum Ort der Unsterblichkeit zu wagen? Mehr dazu auf den folgenden Seiten.

Der Ausgangspunkt der alljährlichen Yatra ist jeweils Srinagar, die Sommerhauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir. Der Ort liegt in einem breiten, fruchtbaren Hochtal, das die Grossmoguln in früheren Tagen nicht zuletzt wegen des angenehmen Klimas als irdisches Paradies rühmten – für diejenigen, die aus der feuchten Hitze der indischen Ebene hierher entflohen sind, muss es wirklich so scheinen.

1981 habe ich an der Yatra teilgenommen – ein eindrückliches Erlebnis, das mich dazu bewog, weiter darüber nachzuforschen. Der vorliegende Bericht beruht einerseits auf dieser persönlichen Erfahrung und einem Interview mit dem Mahant (Vorsteher) der Amarnath Yatra und anderseits auf Recherchen über frühere sowie neuere Berichte. Dadurch entsteht ein Zeitfenster von rund 125 Jahren, wenn man ausser Acht lässt, dass die mythologische Geschichte von Amarnath viel weiter zurückreicht. Weitere Pilgerreisen in Indien, insbesondere im Himalaya, haben mich zudem dazu verleitet, diese Yatra in einem erweiterten Rahmen zu sehen.

Mit leichtem Bündel unterwegs

Von Srinagar aus wird in einer dreistündigen Busfahrt Pahalgam (das «Dorf der Hirten») erreicht, ein normalerweise ruhiger Ferienort am Fusse des westlichen Himalaya. Der weitere Weg in die Berge zur verehrten Höhle von Amarnath, wo die Pilger nach vier Tagen eintreffen werden, muss zu Fuss zurückgelegt werden. Bereits am frühen Morgen des ersten Tages entwirrt sich das grosse Zeltlager ausserhalb des Dorfes, und ein immer länger werdender Zug von Pilgern und Tragtieren entschwindet talaufwärts nach Norden in die Berge. Bis zum nächsten Lager führt der Weg durch Felder und Wiesen eines lieblichen Tals mit kleinen Bauerndörfern, an steileren Lagen durch schattige Pinienwälder, die hie und da von hohen, schlanken Zedern überragt werden.

Reiseroute von Pahalgam zur heiligen Höhle, die am vierten Tag erreicht wird. Die Rückkehr kann auch über Baltal erfolgen, was eine grosse Abkürzung bedeutet.

Die Wandernden tragen alle einen Stock, den sie später bestimmt noch brauchen können. Zu dieser Jahreszeit kann das Wetter launisch sein. Der Monsun bringt oft schwere Wolken, die sich in sintflutartigen Regenfällen über den Bergketten entladen und die Gebirgspfade in rutschige Schlammbahnen verwandeln können. Selbst Schneestürme sind möglich, ist doch der Pass am dritten Tag auf über 4’000 Metern und die Höhle von Amarnath auf 3’880 Metern Höhe gelegen. Manche Pilger aus wärmeren Gebieten Indiens sind aus Angst vor der Kälte zu warm und mit für sie ungewohnten Kleidern angezogen. Die meisten konnten sich jedoch keine neuen Kleider leisten und haben nur das Nötigste bei sich. Einige allzu Beleibte, Alte und Kranke werden von vier bis sechs kräftigen Trägern in Sänften mitgetragen. Aber alle, Frauen und Männer, Jung und Alt, ungeachtet der Unterschiede, wie sie im täglichen Leben aufgrund von Besitz- und Kastenzugehörigkeit auftreten, sind Teil eines einzigen Zuges, der hinten und vorne ohne Ende zu sein scheint.

Der Weg des ersten Tages endet schliesslich in Chandanwari, wo sich das unablässige Gedränge von Ankommenden erst gegen den späteren Nachmittag hin beruhigt. Unter grosser Betriebsamkeit wächst ein scheinbares Chaos aus Zelten, Seilen und Feuerstellen aus dem Talboden. Menschen verschiedenster Herkunft zeigen sich in der «Bazar-Strasse», die durch das Lager läuft. Der Kopf der Zeltstadt wird von orangegewandeten Anhängern (Sanyasins) verschiedener hinduistischer Sekten und Wanderasketen (Sadhus) mit aschebeschmierten Körpern eingenommen. Letztere mischen sich nicht mit den übrigen Yatris, da sie dem weltlichen Leben entsagt haben und aus der Gesellschaft ausgetreten sind. Als Speerspitze des Pilgerzuges, dem die Sanyasins und die gewöhnlichen Pilger folgen, sind sie die eigentlichen Anführer der Yatra.

Noch immer ist ein weiter Weg zu gehen. Am zweiten Tag verliert sich der Pfad nach dem Lager zwischen grossen Felsbrocken, nach der Legende die Überreste erschlagener Dämonen, bis er zu einer steil ansteigenden Flanke kommt. In eng gewundener Schlangenlinie zieht er den Berg hinauf. Der Pilgerzug kommt nur langsam voran, staut sich bis nach Chandanwari zurück, wo es nur stockend vorwärtsgeht. Mit pausenlosen Rufen treiben die Eseltreiber ihre schwer beladenen Tragtiere an, während die Pilger im kühlen Schatten des Berges den Weg hochstreben, bis sie auf der Anhöhe, von der Morgensonne geblendet, ein im Tau glitzerndes Hochtal vor sich sehen. Der nun leichtere Weg führt nach der Baumgrenze in eine karge Welt, deren Stille und Einsamkeit trotz dem Getriebe zu spüren ist. Und es scheint, als würden auch die Menschen ruhiger – der aufdringliche Lärm der geschäftigen Welt liegt weit zurück.

Abenddämmerung im Lager von Chandanwari (1981)

Am Nachmittag ist das Lager von Sheshnag erreicht, das auf einem Plateau von Geröll und Geschiebe liegt. In einer leichten Senke liegt ein ovaler, türkisfarbener See, in welchem Sheshnag wohnen soll.  Sheshnag ist der Name der riesigen, siebenköpfigen Schlange, auf welcher der Gott Vishnu auf dem Urozean geruht haben soll. In diesem verheissungsvollen See, wie an manch anderen Orten auf dem Pilgerweg, nehmen die Pilger ein reinigendes Bad. Das Wasser ist eisig kalt und kommt direkt von den drohend über dem Tal hängenden Gletschern.

Der von Schneebergen umgebene See von Sheshnag (1981)

Am dritten Tag scheint in der dünnen Luft alles zum Greifen nah, doch der Aufstieg zum Mahagunstop Pass zieht sich in die Länge. Müde und erschöpft machen die Pilger in immer kürzer werdenden Abständen Rast. Die hochgelegenen Weiden gehen in Geröllhalden über, und auf der Passhöhe bläst ein kalter, heftiger Wind. Vor den Augen der Pilger liegt die majestätische Bergwelt des Himalaya. Nach kurzem Dankgebet geht es einem sanft abfallenden, lang gezogenen Tal entlang, das sich schliesslich zu einer ausgedehnten Ebene ausweitet, durchflossen vom Panchatarni Fluss. Hier, auf einer leicht ansteigenden Matte, ist der letzte Lagerplatz, in dessen Nähe allein sieben heilige Orte liegen. Diese Orte werden in ganz Indien «Tirtha» genannt, was «Furt» bedeutet, da sie dem Pilger den Übergang zu einem gereinigten, freudvollen Bewusstseinszustand ermöglichen. Die Geschichte der sieben Tirthas ist verwoben mit den kleinen Bächen mit Schmelzwasser, die in den Panchatarni fliessen. Der Legende nach verdanken diese Gewässer ihre Entstehung Shiva, der hier einstmals seine langen, nassen Haare auswand. – Während letzte Pilger im Lager eintreffen, steigen die Abendschatten immer weiter die Berge hinauf, bis nur noch die Gipfel rosa erglühen, während silbern im Tal die Flussbänder glänzen.

Die Verpflegung der Pilger mit Chai am frühen Morgen (1981)
Der Aufstieg zum Mahagunstop Pass (1981)

Die Nähe der verehrten Höhle, welche am vierten Tag erreicht werden soll, lässt die Pilger nicht lange schlafen. Schon im Morgengrauen bildet sich vor der Lagerküche eine Schlange von Wartenden, die zwischen den Zelten hindurch schnell in die Länge wächst. Es gibt wie üblich kostenlos Tee, Gemüse und Chapatis (dünne Brotfladen). Da sie am selben Tag wieder hierher zurückkehren, brechen die Pilger ohne das mühsame Gepäck auf. Es geht dem Fluss entlang in ein enges Tal, über dessen steile Abhänge sich der Pfad bald emporwindet, an gefährlichen Stellen ins Felsgestein gehauen und mit Seilen abgesichert, dann anschliessend durch Matten und Geröllhalden an weissen Gipfeln vorbei. Die Anstrengungen der letzten Tage sind wie verflogen und die schon von weitem spürbare Faszination der Höhle lässt die Pilger immer leichter gehen. Wenn möglich sind heute alle zu Fuss, kaum jemand lässt sich tragen. Die ersten kommen bereits zurück, «Jai Shiva!» oder «Jai Shankar!»1 rufend, das heisst «Es lebe Shiva! Es lebe Shankar!». Ihre Gesichter leuchten – das Erlebte lässt sich kaum erahnen, zu unfassbar mag es gewesen sein. Mit «Jai Shiva!» oder «Jai Shankar!» antwortend gehen die Pilger nun schneller der Höhle entgegen, die in einem nordwärts abbiegenden Seitental liegt. Ewiger Schnee auf dem Talboden, Abhänge ohne Vegetation und am Ende in einer senkrecht aufsteigenden Felswand die verehrte Höhle von Amarnath, in welcher die Schlange von Pilgern verschwindet. Der Pfad wird im Anstieg zum Eingang von bettelnden Sadhus gesäumt. Dauernd unterwegs und heimatlos erhalten die Wanderasketen hier einen mageren Lohn für ihre Entbehrungen. Nicht umsonst wird gesagt: «Wer Shiva verehrt, wird nicht reich».

Am Tag des Vollmondes: Der Pilgerstrom vor der Höhle von Amarnath (1981)

Der Himmel hat sich gegen Mittag hin bewölkt, der einsetzende Regen treibt die Pilger schneller in die Höhle, wo sich unter dem Andrang Leib an Leib drängt. Eine Bewegung in der Masse trägt alle, selbst Erschöpfte, die vor Kälte und Nässe zittern, langsam die Treppen hoch, zwischen eisernen Gittern hindurch, hin zum Heiligtum. Es besteht aus einem Eis-Stalagmiten, welcher aus von der Decke fallenden Wassertropfen geformt wird und ganz hinten in der Höhle steht. Seine Grösse wächst und schwindet den zu- und abnehmenden Mondphasen entsprechend. Heute bei Vollmond sollte er am grössten sein. Dieser Stalagmit, welcher als Verkörperung von Shiva in der Form eines Eis-Lingam betrachtet wird, erreicht in manchen Jahren eine stattliche Grösse von bis zu zwei Metern. Endlos treibt der Strom der Pilger für das Darshan (das «Schauen einer Gottheit») am Lingam vorbei. Zur Verehrung werden Blumen, Süssigkeiten und Kokosnüsse dargebracht, Gebete rezitiert und Räucherstäbchen angezündet. Als Andenken nehmen viele ein kleines Stück vom weissen Kalkstein mit, aus welchem die Höhle geformt ist, zurück in den Alltag, mit dem Gefühl, dem Göttlichen ein Stück näher gekommen zu sein.

Die silbernen Szepter

Die Pilgerzug wird offiziell vom Mahant angeführt. Wo immer er einen Halt macht, wird ein zeremonieller, oranger Schirm über ihn gehalten. Rechts und links von ihm hält ein Diener eines der beiden silbernen Szepter, die Zeichen seiner Hoheit. Vor vierzig Jahren, im Herbst 1983, besuchte ich den damaligen Mahant Shri Swami Krishnananda Sarasvati in seinem Ashram in Srinagar, zu welchem auch ein Shiva Tempel gehört, der als eigentlicher Ausgangspunkt der Amarnath Yatra gilt. Von ihm wollte ich mehr über die mythologischen Geschichten erfahren, welche die Pilgerreise umweben.

Der Mahant Shri Swami Krishnananda Sarasvati mit den silbernen Szeptern in seinem Ashram in Srinagar (1983)

Als der liebenswürdige, bereits betagte Mahant wieder einmal einige hunderttausend Jahre zurückblickte und zu erzählen begann, lebten längst vergessene mythologische Wesen und Gottheiten wieder auf. Nach den Worten des Mahant war das ganze Tal einstmals von einem See bedeckt, in welchem neun Naga- oder Schlangenfürsten lebten. Der König (Nagaraja) unter ihnen litt an einer schweren Gliederkrankheit. Nach einigen erfolglosen Behandlungen fand er endlich zwei Rischis (wie die weisen Seher im alten Indien genannt wurden), die er um Hilfe bat. Sie erklärten ihm, dass seine Beschwerden vom dauernden Leben im Wasser kämen. Darauf ersuchte er die Rischis, das Wasser aus dem Tal abzuführen. Diese wiederum gelangten mit der Bitte an die himmlischen Wesen, und es war schliesslich der Gott Indra, der eine Bresche in die Berge schlug, damit das Wasser abfliessen konnte.2

Der eine Rischi lud darauf weitere weise Seher nach Kaschmir ein, die sich bald darauf einfanden und ein riesiges Opferfeuer vorbereiteten. Gross waren die Opfer, und sogleich verbreitete sich eine Atmosphäre der Reinheit, welcher der Nagaraja seine Heilung verdanken sollte. Ein anderer Rischi schenkte dem Genesenen ein paar silberne Szepter, die er einmal von Shiva geschenkt erhalten hatte.  Um seine Dankbarkeit zu bezeugen, sollte der Nagaraja mit den Szeptern und allen Nagas im Gefolge zur Höhle von Amarnath pilgern, um Shiva zu verehren. Diesem Anliegen kam der Nagaraja im Überfluss der freudigen Gefühle gerne entgegen. Nach der ersten Pilgerreise besuchten die Nagas auch in den folgenden Jahren den heiligen Ort.

Die silbernen Szepter wurden später dem Rischi wieder in Obhut gegeben. Die allmählich das Tal besiedelnden Menschen setzten die Tradition der Nagas fort und als Nachfolger des Rischi trug ein Mahant die silbernen Szepter dem Pilgerzug voran.

Das Bild von 1898 zeigt den damaligen Mahant vor seinem Zelt im Chandanwari Camp.
Hier wird er vom Maharaja Partap Singh (in der Mitte) und vom Raja Amar Singh (rechts) besucht.
https://travelthehimalayas.com/kiki/2021/12/15/amarnath-yatra-1898-diwan-alim-chand

Der Nektar der Unsterblichkeit

Einstmals kamen nach einer langen Epoche harmonischen Zusammenlebens unter den Lebewesen schlechte Taten auf. Als der besorgte Brahma darüber meditierte, erstrahlte ein Licht vor seinem dritten Auge, und das Licht verwandelte sich in ein junges Mädchen. «Vater, was soll ich in der Welt tun?» fragte es verwundert. Brahma erwiderte: «Dein Name sei Tod!»

Das Mädchen begann umherzuschweifen und kam in die Sphäre der Götter, wo es Furcht und Schrecken verbreitete. Die Götter wandten sich in ihrer Hilflosigkeit an Brahma, mit der Bitte, sie vor dem Mädchen zu schützen. Dieser sandte sie zu Vishnu weiter, aber auch er war machtlos und schickte sie zu Shiva. Die Schar pilgerte zum Berg Kailash, fand den Ort jedoch verlassen vor. Da liessen sie sich nieder und konzentrierten ihren Geist auf Shiva, bis sich ihnen folgendes Bild offenbarte: Shiva sass meditierend in einer Höhle, tief versunken in kosmischer Schau. Wie sie der Richtung folgten, in welcher die Vision erschienen war, fanden sie die Höhle am Ende eines vergessenen Gebirgstales. In einiger Entfernung sangen sie Hymnen der Verehrung, da sie es nicht wagten, ihn zu stören. Da schaute Shiva auf. Und wie er die angstvollen Gesichter der Götter bemerkte, fragte er sie, ob sie von Dämonen geplagt würden. Die Götter erzählten die Geschichte von Brahma und vom todbringenden Mädchen. Shiva, als Besieger des Todes, wurde von Mitleid erfüllt. Er nahm die sanft strahlende Mondsichel, die sein Haupt zierte, brach sie entzwei, und sogleich floss Amrita (Nektar der Unsterblichkeit) hervor. Alle tranken davon, badeten im immer stärker anschwellenden Fluss und bekamen ein Alter von sechzehn Jahren. Die Zeit glitt fortan von ihnen ab, sie blieben jung und waren für immer unsterblich. Die Freudenlieder nahmen kein Ende. Shiva war gerührt, löste sich selbst in Wasser auf, verwandelte sich in Licht und sprach zu ihnen: «Ich bin unter Euch, meine Freude ist mit Euch! Von jetzt an wird dieser Ort «Höhle von Amarnath» (Höhle des Herrn der Unsterblichkeit) heissen». Noch immer fliesst im Tal der Fluss, in dem einst die Götter badeten. Er ist als «Amarganga» (Ganga der Unsterblichkeit) bekannt. Hier befindet sich das beliebte Tirtha, in welchem die Yatris baden, bevor sie gereinigt die heilige Höhle betreten.

Das göttliche Paar: Shiva und Parvati

Der Bildausschnitt stammt von einem Gemälde (1979) des Kunstmalers Wolfgang Maria Ohlhäuser, der selbst an der Amarnath Yatra teilgenommen hat. Es zeigt Shiva und Parvati vor der Höhle von Amarnath. Die Figuren wurden mit dem Pulver des weissen Kalksteins der Höhle gemahlt.
(Abbildung mit Genehmigung des Künstlers) 3

Als Parvati, Shivas Gefährtin, einmal das Geheimnis der Unsterblichkeit zu entschleiern trachtete, fragte sie Shiva um Rat. Da begab er sich mit ihr in dieselbe Höhle, um ihr das Wissen über das Leben ohne Anfang und Ende zu übertragen. Da jedoch geheimes Wissen nicht für alle Ohren bestimmt ist, liess Shiva alle anderen Lebewesen als mögliche Zeugen des Geheimnisses aus diesem Gebiet verbannen.

Shiva und Parvati mit den beiden Söhnen Ganesha (mit dem Elefantenkopf) und Subrahmanya (auf dem Pfau durch die Luft fliegend)
(Wikimedia Commons)

In einer Vollmondnacht liess sich das göttliche Paar auf einem Tigerfell in der Höhle nieder. Wiederum zierte eine Mondsichel Shivas Haupt, er trug einen Schurz aus Elefantenhaut und Kobras wanden sich um seinen mit Asche beschmierten Körper. In der einen Hand hielt er den Dreizack (Trisul), in der anderen eine Kette mit Rudraksha-Samen. Neben ihm sass Parvati in der Blüte ihrer Schönheit, in einem seidenen Sari, mit Blumengirlanden behängt. Wie der Mond am Himmel auftauchte, begann Shiva zu erzählen. Mit fortschreitender Übertragung des Geheimnisses wurde Parvati jedoch müde und schlief ein. Ein unter dem Tigerfell liegendes, halb-verdorbenes, vergessenes Papageien-Ei hingegen war inzwischen wieder zum Leben erwacht. Die Geräusche des ausschlüpfenden Vogels deutete Shiva als Parvatis Kopfnicken zum Zeichen ihres Verstehens. Das Missverständnis verschwand erst am Ende, als Parvati auf die Frage, ob sie alles verstanden hätte, erwachte und verneinen musste.4 Shiva, verwirrt, sah auf und erblickte den Papagei, den Verursacher der vermeintlichen «Ja»-Geräusche. Er rannte dem Vogel nach, um ihn zu fangen. Die Verfolgung endete vor dem Haus eines Rischi, in welchem der Papagei verschwunden war. Und wie es das Schicksal so wollte, wurde er von der gähnenden Frau des Rischi verschluckt. Der Anstand verlangte von Shiva, vor dem Haus zu warten, bis ihr Mann zurückkam. Als dieser Shiva vor der Haustür wartend vorfand, berührte er ehrfürchtig seine Füsse und fragte ihn nach dem Begehr. Beide konnten in der Folge den Papagei jedoch nicht finden, bis der Weise in seiner Hellsicht die ganze Geschichte sah. Er erkannte, dass es keine Lösung gab, war der Vogel als Zeuge des Geheimnisses doch zu Unsterblichkeit gelangt, die ihm selbst von Shiva nicht mehr genommen werden konnte.

Der Papagei wuchs im Leibe der Frau zu einem Knaben heran. Zwölf Jahre blieb er in ihrem Körper, als wollte er nicht geboren werden. Eine versammelte Götterschar flehte ihn an, sich zu zeigen, und versprach ihm, sich nicht ins weltliche Leben verstricken zu müssen. Schliesslich kam der Knabe ohne Makel zur Welt. Er war sogleich erwachsen und ging in die Waldeinsamkeit. Als Weiser wurde er bekannt und lehrte selbst die Götter.

Shiva und seine Manifestation als Lingam

Von seinen Anhängern wird Shiva als wichtigste Gottheit im hinduistischen Pantheon verehrt. Eine Rechtfertigung dieses Standpunktes bietet ein Mythos, nach welchem sich Vishnu und Brahma um die göttliche Vorherrschaft streiten. Da offenbart sich ihnen Shiva als flammende Säule (Lingam). Als die beiden ihre Grösse erkunden wollen, machen sie sich nach unten und oben auf den Weg, um Anfang und Ende dieser Säule herauszufinden, was ihnen jedoch zu ihrer grossen Verwunderung nicht gelingt. Darauf zeigt sich ihnen Shiva in anderer Gestalt und gibt sich zu erkennen. Vishnu und Brahma müssen darauf wohl oder übel Shivas Überlegenheit akzeptieren (Zimmer, 1978, 412ff).

Das Lingam ist die phallische Offenbarung des höchsten Gottes. Die Zeugungskraft ist himmelwärts gerichtet, hin zur Befreiung – eine Befreiung, die letztlich nur über die Auflösung des Weltlichen, mit anderen Worten: durch Hinwendung zur Askese, erreicht werden kann. So leben in Shiva die Kräfte der Zeugung, der Auflösung und der Befreiung gemeinsam. Die Einheit dieser drei Elemente macht den zeitlosen Allgeist (brahman) aus, welcher allem Sein zugrunde liegt.

Die belebende, gestaltende Energie des Universums wird durch Parvati verkörpert. Ohne Parvati wäre Shiva nichts. Nur mit Hilfe ihrer aktivierenden, wandelbaren Energie (Shakti) ist Shiva fähig, die Welt in seinem endlosen Tanz zu schaffen und zu zerstören. Parvati ist als höchste Shakti untrennbar mit ihm vereint. Nur durch die göttliche Verbindung von Shiva und Parvati ist Schöpfung, in welcher Form auch immer, möglich. Parvati wird in diesem Zusammenhang als weibliches Geschlecht (Yoni) dargestellt, auf welchem das Lingam steht. Im Falle von Amarnath kann die Yoni in der Form der Höhle gesehen werden. In der Höhle von Amarnath werden Shiva und Parvati manchmal auch in der glückverheissenden Form zweier weisser Tauben erblickt.

Für die Anhänger Shivas ist die Lingam-Verehrung ein zentrales Element ihrer religiösen Praxis. Die unzähligen Lingams, über ganz Indien verstreut, werden als senkrecht stehender Stein verehrt, in der Form einer oben abgerundeten Säule. Neben den von Menschenhand geschaffenen, kommt den «aus sich selbst gewordenen» (swayambhuva) Lingams eine besondere Bedeutung zu, sind sie doch von niemandem geschaffen worden und schon seit uranfänglichen Zeiten vorhanden (Kramrisch, 1981, 180). Ihr augenscheinlich unerklärlicher Ursprung lässt sie als Manifestation des unfassbaren Urgrundes allen Seins erkennen, das ohne Anfang und Ende ist, immer vorhanden war und immer sein wird. Der Offenbarung des Göttlichen in der Natur wird im Shivaismus höchste Verehrung zuteil. In der Höhle von Amarnath verkörpert sich Shiva als Herr der Unsterblichkeit in der Form eines natürlichen Eis-Lingams.

Amarnath Yatra im Fadenkreuz der Terroristen

Auf den vielen Hausbooten mit ihren exotisch klingenden Namen verweilten seit den 60-er Jahren viele Hippies und Backpacker tage- und wochenlang auf dem Dal Lake im indischen Teil von Kaschmir, um sich von den Strapazen des Reisens zu erholen und verwöhnen zu lassen. Die Idylle des fruchtbaren Hochtals, zu Füssen der schneebedeckten Berge des westlichen Himalaya, wurde auch von unzähligen frisch verheirateten indischen Paaren und weiteren Touristen aufgesucht. Obwohl das Gebiet wegen der Nachbarschaft zum rivalisierenden Nachbarn Pakistan politisch spannungsgeladen war, war dies für die Touristen bis Ende der 80-er Jahre kaum spürbar.

Kaschmir ist in einen indischen und einen pakistanischen Teil getrennt, was ein Resultat der Aufteilung Indiens nach der Unabhängigkeitserklärung von 1947 ist. Da auch der indische Teil von Kaschmir vorwiegend von Muslimen bewohnt wird, entstand hier eine separatistische Bewegung, welche eine Vereinigung der getrennten Gebiete unter muslimischer Herrschaft anstrebt. Indien wirft der pakistanischen Seite vor, die Separatisten zu unterstützen, und versucht durch ein grosses Militäraufgebot die Situation unter Kontrolle zu halten. Trotz aller Bemühungen kommt es seit Ende der 80-er Jahre immer wieder zu Unruhen zwischen den verfeindeten Lagern. Wegen terroristischer Gewalt, Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften sowie militärischen Auseinandersetzungen zwischen indischen und pakistanischen Truppen, ist der Tourismus – bis dahin die wichtigste Einnahmequelle in Kaschmir – zunehmend versiegt.

Die Pilger auf dem Weg zur Höhle von Amarnath waren für die separatistischen und dschihadistischen Gruppen, welche aus dem Untergrund heraus agierten, eine ideale Zielscheibe, um sich gegenüber den Hindus zu positionieren. Unter all den terroristischen Anschlägen in Kaschmir hatten diejenigen auf die Amarnath Yatra auch einen grossen ideologischen und propagandistischen Wert. Die Extremisten konnten dadurch zeigen, dass Hindus, welche aus verschiedenen Gebieten Indiens angereist waren, im muslimisch dominierten Kaschmir nichts zu suchen hätten.

Hier eine Chronik der wichtigsten terroristischen Ereignisse: Während die Pilger tagelang zu Fuss im unbewohnten Gebirge unterwegs waren und in einfachen Zeltlagern übernachteten, wurden sie mehrmals unschuldige Opfer brutaler Anschläge. In den Jahren 2000, 2001, 2002 und 2017 kamen bei unvorhergesehenen Attacken insgesamt 121 Pilger um. Dazu kamen tödliche Opfer von 20 muslimischen Dienstleistern und 11 Sicherheitsleuten sowie viele Verwundete. Über die Pilgerreise zum Ort der Unsterblichkeit hatte sich der Schatten des Todes gelegt.

Eine tragische Aktion war zudem die Entführung und Verschleppung von sechs westlichen Touristen im Jahre 1995. Nur ein Amerikaner konnte entfliehen, die anderen blieben in Gefangenschaft. Alle Appelle und Verhandlungen der Opferländer, um die Freilassung der Geiseln zu erwirken, blieben erfolglos. Gemäss offiziellen Berichten sollen sie noch im Dezember desselben Jahres hingerichtet worden sein.

Die verschiedenen Anschläge trafen die Hindus im Innersten, bei der friedlichen Ausübung ihrer Religion im eigenen Land. Zudem gehört der indische Teil von Kaschmir aus ihrer Perspektive zu ihrer eigenen kulturellen Einflusssphäre. Vom 9. bis 12. Jahrhundert galt Kaschmir als wichtiges Zentrum hinduistischer Gelehrsamkeit und Kultur. Das Gebiet wurde bis 1346 von Hindu-Dynastien regiert, bevor es unter muslimische Herrschaft geriet.

Religion als ideologische Grundlage für die Separatistenbewegung und als Rechtfertigung für Übergriffe auf Andersgläubige ist leider in diesem umstrittenen Grenzgebiet eine treibende Kraft geworden. Auf der anderen Seite ist ein Erstarken des nationalistisch geprägten Hinduismus in Indien zu beobachten, was dazu geführt hat, dass sich unter der gegenwärtigen Regierung Indiens Angehörige von Minderheiten – die grösste Minderheit sind die Muslime – zunehmend als Bürger zweiter Klasse empfinden. Von daher sind eine Beilegung des Konfliktes und ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Gemeinschaften in Kaschmir nicht in Sicht. Nach den tragischen Übergriffen kann die Yatra nur noch unter grossem militärischen Begleitschutz durchgeführt werden.

Die Tradition der hinduistischen Pilgerreisen: Kontinuität und Wandel

Der Himalaya hat seit Menschengedenken einen bedeutenden Stellenwert in der religiösen Vorstellungswelt der Hindus. Die mythologische Bedeutung von Bergen als Sitz der Götter, von heiligen Flüssen und von Orten, an welchen sich göttliche Geschehnisse abgespielt haben, ist allgegenwärtig, was dazu geführt hat, dass «die grosse Mehrheit gläubiger Hindus den Himalaya nicht als Reallandschaft im naturwissenschaftlichen Sinne, sondern als mythisch durchwirkten Sakralraum und homogene Einheit sehen» (Grötzbach, 1994, 183). Die Pilgerreisen zu den verschiedenen Quellorten der heiligen Flüsse Ganges und Jamuna, sowie zum Berg Kailash im südlichen Tibet, auf welchem Shiva thront – zusammen mit seiner Gemahlin Parvati, der göttlichen Tochter des Bergkönigs Himalaya – gelten als besonders verdienstvoll. Auch die Reise zur Höhle von Amarnath steht in der Gunst der Pilger weit oben, obwohl dieser Pilgerort nur unter Gefahren und grossen Strapazen erreichbar ist, wenn man von einem neueren Trend absieht, den Helikopterflügen, welche vermögende Pilger in Kürze zum Heiligtum bringen.

Als ich 1981 an der Yatra teilnahm, waren lediglich etwa 10’000 Pilger zur Höhle von Amarnath unterwegs. Dass es einmal wie im Jahre 2023 rund 428’000 sein werden, hätte wohl niemand vorauszusagen gewagt. Ein Element dieser Entwicklung ist sicherlich die Verbesserung der Transportmöglichkeiten, aber noch mehr kann davon ausgegangen werden, dass die Pauschalangebote von Reisebüros, welche Pilgerreisen in Indien als lukratives Nischenprodukt in ihrem Angebot haben (Auckland, 2018, 292), auch die Reise zur Höhle von Amarnath einem breiteren Publikum zugänglich und schmackhaft gemacht haben. Nun birgt der stetig wachsende Pilger-Tourismus allerdings auch Gefahren in sich. Nach Coleman und Crang

«ist der moderne Tourismus eine im innersten Kern expansive Ökonomie, die sich immerzu neue Erfahrungen und neue Orte aneignet bzw. konstruiert. Eine solche Aktivität trägt ironischerweise jedoch den Keim der eigenen Zerstörung in sich, denn bereits die blosse Anwesenheit des Touristen korrumpiert das Ideal, eine authentische und vollkommen andersartige Kultur zu erreichen» (zit. nach d’Eramo, 2018, 90).

Helicopter-Yatra, die ultimative Vermarktung des Pilgerns nach Amarnath
(Photo: aus einer Travel-Agency Werbung)

Mit der zunehmenden Popularisierung des Pilgerns und dessen Vereinnahmung durch die Tourismus Industrie sind die Grenzen zwischen Pilgern und Tourismus fliessend geworden. Oft ist die Teilnahme an einer Yatra ein religiöses und zugleich ein touristisches Erlebnis – das eine schliesst das andere nicht aus (Auckland, 2018, 209). Für eine alte Frau vom Lande, welche barfuss und in einen dünnen Baumwollsari gekleidet die heilige Höhle erreicht, bedeutet die Teilnahme an der Yatra etwas Anderes als für den jungen Angestellten aus der Grossstadt, welcher sich gut ausgerüstet mit Freunden auf die abenteuerliche Reise eingelassen hat – dokumentiert mit Selfies, die er umgehend auf verschiedenen sozialen Netzwerken verbreitet. Was allerdings nicht heisst, dass letzterer beim Darshan in der Höhle nicht ein Gebet zum Himmel schickt, welches die langersehnte Erfüllung einer Herzensangelegenheit beinhaltet.

Die meisten Tirthas locken die Pilger weit weg von ihrer gewohnten Umgebung. Der Ausbruch aus dem Alltag, die Reise in eine unberührte Gebirgslandschaft, das Verweilen an mythologisch bedeutsamen Kraftorten entlang des Pilgerweges und schliesslich die Begegnung mit dem verehrten Heiligtum hinterlassen bei den Yatris unvergessliche Erlebnisse, welche ihren zukünftigen Lebensweg beeinflussen können. Orte wie Amarnath liegen für sie am Ende der Welt, weit weg vom Vertrauten und von jeglicher Unterstützung. In diesem Sinne führt das Tirtha in einen jenseitigen Bereich – von welchem die gewohnte Umgebung und das alltägliche Leben aus der Ferne betrachtet werden können. Oft fällt es nun leichter, soziale und materielle Bindungen und eventuell damit verbundene Probleme klarer zu erkennen. Mit gewonnener Einsicht, Zuversicht und Energie kehren die Pilger wieder an den Ausgangspunkt ihrer Reise zurück.

Der gegenwärtige Boom des Pilgerns in Indien zeigt letztlich auch, dass angesichts der kulturellen Entfremdung und des religiösen Vakuums, verursacht vom durchgetakteten Rhythmus einer masslosen globalen Entwicklungsstrategie, das Bedürfnis der Hindus nach einer identitätsstiftenden Rückbesinnung auf die eigenen kulturellen Wurzeln und religiösen Werte gewachsen ist. Diesbezüglich unterscheidet Kakar jedoch zwischen zwei verschiedenen Typen: dem “Hindu Nationalist” und dem “flexible Hindu” (2007, 134-151). Auch wenn sich ihre Lebensperspektiven nicht auf einen Nenner bringen lassen, haben für beide traditionelle Werte und religiöse Praktiken, einschliesslich des Pilgerns, einen wichtigen Stellenwert.

Wie Kakar schreibt, ist die Sichtweise eines Hindu Nationalisten eher rückwärtsgewandt und konservativ:

“The Hindu nationalist is attempting to confront the processes of modernization and changes in family structure with a new articulation of Hindu values and norms. For one, his is the call to keep the Hindu family atmosphere free of all cultural pollution. Since he believes the ongoing invasion of Indian cultural space by Western values is a conspiracy by forces determined to weaken India by uprooting it from its traditions, the Hindu nationalist reacts by seeking to build a united front against the cultural assault of globalization from within the family” (2007, 136).

Gemäss Kakar versucht der progressive, flexible Hindu hingegen Moderne und Tradition miteinander in Einklang zu bringen:

“It is modernity that has turned religious pilgrimages into a mass phenomenon. Greater mobility, more money and regular hours of work make it possible for the flexible Hindu to seek out touristy pilgrimage destinations on weekend family outings or vacations. The interest in pilgrimages is not limited to the older generation; even youths and young adults go on pilgrimages with family or friends, linking the pleasures of community and leisure time to religious goals” (2007, 145).

“… irrespective how Westernized a flexible Hindu may be, his weekend or package-tour pilgrimages, his turning to gurus, keeping fasts or integrating New Age practices in his life all connect him to tradition and affirm his Hindu identity. In other words, the flexible Hindu’s response to modernity is not a turning away from his religious heritage but giving it a new form and adapting it to his changed life circumstances” (2007, 149).

Über die sozio-kulturelle Zusammensetzung der Pilgermassen ist noch wenig bekannt. Zwischen dem nationalistisch gesinnten und dem flexiblen Hindu gibt es gewiss noch Zwischenschattierungen. Doch, wo auch immer die Einzelnen im Leben stehen mögen, das Pilgern und die Revitalisierung traditioneller Werte geben ihnen sowohl ein Gefühl der Identität und der Zugehörigkeit, als auch eine spirituelle Perspektive, welche die alltäglichen Anliegen und Entwicklungen zu relativieren vermag.

Die weltliche Entwicklung ist kein absoluter Wert an sich, es gibt ein Leben, welches über das weltliche hinausführt. Dieser Vorstellung entspricht auch das «vier-Stufen-Modell», welches die hinduistische Tradition für den menschlichen Lebenslauf vorsieht. Nach einer ersten Stufe als Schüler und einer zweiten als Ehemann oder Ehefrau, wo die Familie und das weltliche Leben im Vordergrund stehen, sind die beiden folgenden Stufen nach einer Befreiung von weltlichen Angelegenheiten ausgerichtet. Mit dem «Aufbruch zum Walde» in der dritten Phase macht sich der Mensch zunächst auf die Suche nach dem Selbst (atman), das als Teil des Allgeistes (brahman) verstanden wird. Das Einsiedlerleben im Walde ist eine Zeit des Lernens, welche abgeschlossen werden muss, bevor letztlich mit dem Leben eines heimatlosen Pilgers begonnen werden kann, der bettelnd auf der Strasse der Ewigkeit dahinzieht.

Bereits in den Weisheitslehren der Veden, welche vor rund 5’500 Jahren von den Rischis durch göttliche Eingebung empfangen wurden, wird das Reisen an sich als verdienstvolle Tätigkeit beschrieben. Der Gott Indra sagt zum König Harischandra: “There is no happiness for the person who does not travel; living amongst men, even the best man frequently becomes a sinner; for Indra is the traveller’s friend. Hence travel!” (zit. nach Bharati, 1963, 136). Wie der Bericht über die Pilgerreise nach Amarnath zeigt, hat das Reisen in der Yatra seinen vollendeten Ausdruck gefunden.


Photos

Alle Photos, bei welchen keine Urheberschaft angegeben ist, stammen vom Autor des Berichtes (Peter Eppler).

Literatur

Aukland, K. (2018). Repackaging India’s Sacred Geography: Travel Agencies and Pilgrimage-Related Travel. Numen65(2–3), 289–318. https://www.jstor.org/stable/26566256

Bharati, A. (1963). Pilgrimage in the Indian Tradition. History of Religions3(1), 135–167. http://www.jstor.org/stable/1062081

Bhardwaj, S.M. (1973). Hindu Places of Pilgrimage in India. A Study in Cultural Geography. Thomson Press.

d’Eramo, M. (2018). Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters. Suhrkamp Verlag.

Eliade, M. (1985). Yoga, Unsterblichkeit und Freiheit. Suhrkamp Taschenbuch.

Grötzbach, E. (1994). Hindu-Heiligtümer als Pilgerziele im Hochhimalaya (Hindu Shrines as Pilgrim Destinations in the High Himalayas). Erdkunde48(3), 181–193. http://www.jstor.org/stable/25646592

Kakar, S. & Kakar, K. (2007). The Indians. Portrait of a People. First published in Viking by Penguin Books India.

Kramrisch, S. (1981). The Presence of Shiva. Princeton University Press.

Nordin, A. (2011). Die Erkenntnis der Härteerfahrung bei der Himalaya-Pilgerreise. Numen58(5/6), 632–673. http://www.jstor.org/stable/23046223

Smith, W.W. (1978). Mythological History of the Nepal Valley from Svayambhu Purana. Avalok Publishers.

Zimmer, H. (1978). Maya. Der indische Mythos. Insel Verlag.

Anmerkungen

  1. Shankar ist ein weiterer Name Shivas. ↩︎
  2. Eine Parallele dazu befindet sich in der mythologischen Entstehungsgeschichte des Kathmandu-Tales, wo der Bodhisattva Manjusri mit seinem Schwert eine Öffnung in die eine Bergkette schlug, damit der das Tal bedeckende See abfliessen konnte. Auch die im See wohnenden Nagas spielen in diesem Mythos eine bedeutende Rolle (Smith, 1978). ↩︎
  3. Weitere Bilder von Wolfgang Maria Ohlhäuser sind auf folgender Webpage zu finden: https://www.ohlhaeuser.de/ ↩︎
  4. Eliade beschreibt eine ähnliche Geschichte: «Shiva lehrte eines Tages seine Gattin Parvati am Ufer des Meeres die Lehre des Yoga. Parvati war eingeschlafen, aber Lokeshvara (Avalokiteshvara) hatte alles gehört, denn er hatte sich in der Gestalt eines Fisches im Wasser verborgen …» (Eliade, 1985, 316). ↩︎

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