Eine Photoreportage









(Photo: The Metropolitan Museum of Art. Public Domain)
Beschreibung der Szene unter: https://www.metmuseum.org/art/collection/search/37989




«Flower like the heels of the wanderer,
His body growth and is fruitful;
All his sins disappear,
Slain by the toil of his journeying.»
(Aus dem Rig Veda, zit. nach Bhardwaj, 1973, 3)
Pilgerreisen (Yatras) haben in Indien während den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen, selbst an solchen zu entlegenen heiligen Orten im Himalaya nehmen immer mehr Pilger (Yatris) teil. Eine der eindrücklichsten Yatras im Hochgebirge ist diejenige zum Ort der Unsterblichkeit, die Amarnath Yatra, die im Folgenden beschrieben wird.
Die Times of India erwähnte in der Ausgabe vom 11. August 2023, dass rund 428’000 Pilger im selben Jahr an der Amarnath Yatra teilgenommen haben. Bei dieser Reise ist der wichtigste Tag jeweils bei Vollmond im Monat Sravan (Juli/August) – ausgerechnet dann, wenn der Monsun seinen Höhepunkt erreicht. Ab und zu gibt es deshalb wetterbedingte Tragödien auf dem tagelangen Treck zum Heiligtum. Das schlimmste Ereignis fand 1996 statt, als rund 250 Menschen, die in einen schweren Schneesturm geraten waren, nur noch tot geborgen werden konnten. Dazu kamen im politisch sensiblen Grenzgebiet zu Pakistan mehrmals terroristische Attacken, welche weitere Menschenleben unter den Pilgern forderten. Was ist es, das trotz all der Strapazen und Gefahren so viele Pilger dazu bewegt, die Pilgerreise zum Ort der Unsterblichkeit zu wagen? Mehr dazu auf den folgenden Seiten.
Der Ausgangspunkt der alljährlichen Yatra ist jeweils Srinagar, die Sommerhauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir. Der Ort liegt in einem breiten, fruchtbaren Hochtal, das die Grossmoguln in früheren Tagen nicht zuletzt wegen des angenehmen Klimas als irdisches Paradies rühmten – für diejenigen, die aus der feuchten Hitze der indischen Ebene hierher entflohen sind, muss es wirklich so scheinen.
1981 habe ich an der Yatra teilgenommen – ein eindrückliches Erlebnis, das mich dazu bewog, weiter darüber nachzuforschen. Der vorliegende Bericht beruht einerseits auf dieser persönlichen Erfahrung und einem Interview mit dem Mahant (Vorsteher) der Amarnath Yatra und anderseits auf Recherchen über frühere sowie neuere Berichte. Dadurch entsteht ein Zeitfenster von rund 125 Jahren, wenn man ausser Acht lässt, dass die mythologische Geschichte von Amarnath viel weiter zurückreicht. Weitere Pilgerreisen in Indien, insbesondere im Himalaya, haben mich zudem dazu verleitet, diese Yatra in einem erweiterten Rahmen zu sehen.
Von Srinagar aus wird in einer dreistündigen Busfahrt Pahalgam (das «Dorf der Hirten») erreicht, ein normalerweise ruhiger Ferienort am Fusse des westlichen Himalaya. Der weitere Weg in die Berge zur verehrten Höhle von Amarnath, wo die Pilger nach vier Tagen eintreffen werden, muss zu Fuss zurückgelegt werden. Bereits am frühen Morgen des ersten Tages entwirrt sich das grosse Zeltlager ausserhalb des Dorfes, und ein immer länger werdender Zug von Pilgern und Tragtieren entschwindet talaufwärts nach Norden in die Berge. Bis zum nächsten Lager führt der Weg durch Felder und Wiesen eines lieblichen Tals mit kleinen Bauerndörfern, an steileren Lagen durch schattige Pinienwälder, die hie und da von hohen, schlanken Zedern überragt werden.
Die Wandernden tragen alle einen Stock, den sie später bestimmt noch brauchen können. Zu dieser Jahreszeit kann das Wetter launisch sein. Der Monsun bringt oft schwere Wolken, die sich in sintflutartigen Regenfällen über den Bergketten entladen und die Gebirgspfade in rutschige Schlammbahnen verwandeln können. Selbst Schneestürme sind möglich, ist doch der Pass am dritten Tag auf über 4’000 Metern und die Höhle von Amarnath auf 3’880 Metern Höhe gelegen. Manche Pilger aus wärmeren Gebieten Indiens sind aus Angst vor der Kälte zu warm und mit für sie ungewohnten Kleidern angezogen. Die meisten konnten sich jedoch keine neuen Kleider leisten und haben nur das Nötigste bei sich. Einige allzu Beleibte, Alte und Kranke werden von vier bis sechs kräftigen Trägern in Sänften mitgetragen. Aber alle, Frauen und Männer, Jung und Alt, ungeachtet der Unterschiede, wie sie im täglichen Leben aufgrund von Besitz- und Kastenzugehörigkeit auftreten, sind Teil eines einzigen Zuges, der hinten und vorne ohne Ende zu sein scheint.
Der Weg des ersten Tages endet schliesslich in Chandanwari, wo sich das unablässige Gedränge von Ankommenden erst gegen den späteren Nachmittag hin beruhigt. Unter grosser Betriebsamkeit wächst ein scheinbares Chaos aus Zelten, Seilen und Feuerstellen aus dem Talboden. Menschen verschiedenster Herkunft zeigen sich in der «Bazar-Strasse», die durch das Lager läuft. Der Kopf der Zeltstadt wird von orangegewandeten Anhängern (Sanyasins) verschiedener hinduistischer Sekten und Wanderasketen (Sadhus) mit aschebeschmierten Körpern eingenommen. Letztere mischen sich nicht mit den übrigen Yatris, da sie dem weltlichen Leben entsagt haben und aus der Gesellschaft ausgetreten sind. Als Speerspitze des Pilgerzuges, dem die Sanyasins und die gewöhnlichen Pilger folgen, sind sie die eigentlichen Anführer der Yatra.
Noch immer ist ein weiter Weg zu gehen. Am zweiten Tag verliert sich der Pfad nach dem Lager zwischen grossen Felsbrocken, nach der Legende die Überreste erschlagener Dämonen, bis er zu einer steil ansteigenden Flanke kommt. In eng gewundener Schlangenlinie zieht er den Berg hinauf. Der Pilgerzug kommt nur langsam voran, staut sich bis nach Chandanwari zurück, wo es nur stockend vorwärtsgeht. Mit pausenlosen Rufen treiben die Eseltreiber ihre schwer beladenen Tragtiere an, während die Pilger im kühlen Schatten des Berges den Weg hochstreben, bis sie auf der Anhöhe, von der Morgensonne geblendet, ein im Tau glitzerndes Hochtal vor sich sehen. Der nun leichtere Weg führt nach der Baumgrenze in eine karge Welt, deren Stille und Einsamkeit trotz dem Getriebe zu spüren ist. Und es scheint, als würden auch die Menschen ruhiger – der aufdringliche Lärm der geschäftigen Welt liegt weit zurück.
Am Nachmittag ist das Lager von Sheshnag erreicht, das auf einem Plateau von Geröll und Geschiebe liegt. In einer leichten Senke liegt ein ovaler, türkisfarbener See, in welchem Sheshnag wohnen soll. Sheshnag ist der Name der riesigen, siebenköpfigen Schlange, auf welcher der Gott Vishnu auf dem Urozean geruht haben soll. In diesem verheissungsvollen See, wie an manch anderen Orten auf dem Pilgerweg, nehmen die Pilger ein reinigendes Bad. Das Wasser ist eisig kalt und kommt direkt von den drohend über dem Tal hängenden Gletschern.
Am dritten Tag scheint in der dünnen Luft alles zum Greifen nah, doch der Aufstieg zum Mahagunstop Pass zieht sich in die Länge. Müde und erschöpft machen die Pilger in immer kürzer werdenden Abständen Rast. Die hochgelegenen Weiden gehen in Geröllhalden über, und auf der Passhöhe bläst ein kalter, heftiger Wind. Vor den Augen der Pilger liegt die majestätische Bergwelt des Himalaya. Nach kurzem Dankgebet geht es einem sanft abfallenden, lang gezogenen Tal entlang, das sich schliesslich zu einer ausgedehnten Ebene ausweitet, durchflossen vom Panchatarni Fluss. Hier, auf einer leicht ansteigenden Matte, ist der letzte Lagerplatz, in dessen Nähe allein sieben heilige Orte liegen. Diese Orte werden in ganz Indien «Tirtha» genannt, was «Furt» bedeutet, da sie dem Pilger den Übergang zu einem gereinigten, freudvollen Bewusstseinszustand ermöglichen. Die Geschichte der sieben Tirthas ist verwoben mit den kleinen Bächen mit Schmelzwasser, die in den Panchatarni fliessen. Der Legende nach verdanken diese Gewässer ihre Entstehung Shiva, der hier einstmals seine langen, nassen Haare auswand. – Während letzte Pilger im Lager eintreffen, steigen die Abendschatten immer weiter die Berge hinauf, bis nur noch die Gipfel rosa erglühen, während silbern im Tal die Flussbänder glänzen.
Die Nähe der verehrten Höhle, welche am vierten Tag erreicht werden soll, lässt die Pilger nicht lange schlafen. Schon im Morgengrauen bildet sich vor der Lagerküche eine Schlange von Wartenden, die zwischen den Zelten hindurch schnell in die Länge wächst. Es gibt wie üblich kostenlos Tee, Gemüse und Chapatis (dünne Brotfladen). Da sie am selben Tag wieder hierher zurückkehren, brechen die Pilger ohne das mühsame Gepäck auf. Es geht dem Fluss entlang in ein enges Tal, über dessen steile Abhänge sich der Pfad bald emporwindet, an gefährlichen Stellen ins Felsgestein gehauen und mit Seilen abgesichert, dann anschliessend durch Matten und Geröllhalden an weissen Gipfeln vorbei. Die Anstrengungen der letzten Tage sind wie verflogen und die schon von weitem spürbare Faszination der Höhle lässt die Pilger immer leichter gehen. Wenn möglich sind heute alle zu Fuss, kaum jemand lässt sich tragen. Die ersten kommen bereits zurück, «Jai Shiva!» oder «Jai Shankar!»1 rufend, das heisst «Es lebe Shiva! Es lebe Shankar!». Ihre Gesichter leuchten – das Erlebte lässt sich kaum erahnen, zu unfassbar mag es gewesen sein. Mit «Jai Shiva!» oder «Jai Shankar!» antwortend gehen die Pilger nun schneller der Höhle entgegen, die in einem nordwärts abbiegenden Seitental liegt. Ewiger Schnee auf dem Talboden, Abhänge ohne Vegetation und am Ende in einer senkrecht aufsteigenden Felswand die verehrte Höhle von Amarnath, in welcher die Schlange von Pilgern verschwindet. Der Pfad wird im Anstieg zum Eingang von bettelnden Sadhus gesäumt. Dauernd unterwegs und heimatlos erhalten die Wanderasketen hier einen mageren Lohn für ihre Entbehrungen. Nicht umsonst wird gesagt: «Wer Shiva verehrt, wird nicht reich».
Der Himmel hat sich gegen Mittag hin bewölkt, der einsetzende Regen treibt die Pilger schneller in die Höhle, wo sich unter dem Andrang Leib an Leib drängt. Eine Bewegung in der Masse trägt alle, selbst Erschöpfte, die vor Kälte und Nässe zittern, langsam die Treppen hoch, zwischen eisernen Gittern hindurch, hin zum Heiligtum. Es besteht aus einem Eis-Stalagmiten, welcher aus von der Decke fallenden Wassertropfen geformt wird und ganz hinten in der Höhle steht. Seine Grösse wächst und schwindet den zu- und abnehmenden Mondphasen entsprechend. Heute bei Vollmond sollte er am grössten sein. Dieser Stalagmit, welcher als Verkörperung von Shiva in der Form eines Eis-Lingam betrachtet wird, erreicht in manchen Jahren eine stattliche Grösse von bis zu zwei Metern. Endlos treibt der Strom der Pilger für das Darshan (das «Schauen einer Gottheit») am Lingam vorbei. Zur Verehrung werden Blumen, Süssigkeiten und Kokosnüsse dargebracht, Gebete rezitiert und Räucherstäbchen angezündet. Als Andenken nehmen viele ein kleines Stück vom weissen Kalkstein mit, aus welchem die Höhle geformt ist, zurück in den Alltag, mit dem Gefühl, dem Göttlichen ein Stück näher gekommen zu sein.
Die Pilgerzug wird offiziell vom Mahant angeführt. Wo immer er einen Halt macht, wird ein zeremonieller, oranger Schirm über ihn gehalten. Rechts und links von ihm hält ein Diener eines der beiden silbernen Szepter, die Zeichen seiner Hoheit. Vor vierzig Jahren, im Herbst 1983, besuchte ich den damaligen Mahant Shri Swami Krishnananda Sarasvati in seinem Ashram in Srinagar, zu welchem auch ein Shiva Tempel gehört, der als eigentlicher Ausgangspunkt der Amarnath Yatra gilt. Von ihm wollte ich mehr über die mythologischen Geschichten erfahren, welche die Pilgerreise umweben.
Als der liebenswürdige, bereits betagte Mahant wieder einmal einige hunderttausend Jahre zurückblickte und zu erzählen begann, lebten längst vergessene mythologische Wesen und Gottheiten wieder auf. Nach den Worten des Mahant war das ganze Tal einstmals von einem See bedeckt, in welchem neun Naga- oder Schlangenfürsten lebten. Der König (Nagaraja) unter ihnen litt an einer schweren Gliederkrankheit. Nach einigen erfolglosen Behandlungen fand er endlich zwei Rischis (wie die weisen Seher im alten Indien genannt wurden), die er um Hilfe bat. Sie erklärten ihm, dass seine Beschwerden vom dauernden Leben im Wasser kämen. Darauf ersuchte er die Rischis, das Wasser aus dem Tal abzuführen. Diese wiederum gelangten mit der Bitte an die himmlischen Wesen, und es war schliesslich der Gott Indra, der eine Bresche in die Berge schlug, damit das Wasser abfliessen konnte.2
Der eine Rischi lud darauf weitere weise Seher nach Kaschmir ein, die sich bald darauf einfanden und ein riesiges Opferfeuer vorbereiteten. Gross waren die Opfer, und sogleich verbreitete sich eine Atmosphäre der Reinheit, welcher der Nagaraja seine Heilung verdanken sollte. Ein anderer Rischi schenkte dem Genesenen ein paar silberne Szepter, die er einmal von Shiva geschenkt erhalten hatte. Um seine Dankbarkeit zu bezeugen, sollte der Nagaraja mit den Szeptern und allen Nagas im Gefolge zur Höhle von Amarnath pilgern, um Shiva zu verehren. Diesem Anliegen kam der Nagaraja im Überfluss der freudigen Gefühle gerne entgegen. Nach der ersten Pilgerreise besuchten die Nagas auch in den folgenden Jahren den heiligen Ort.
Die silbernen Szepter wurden später dem Rischi wieder in Obhut gegeben. Die allmählich das Tal besiedelnden Menschen setzten die Tradition der Nagas fort und als Nachfolger des Rischi trug ein Mahant die silbernen Szepter dem Pilgerzug voran.
Einstmals kamen nach einer langen Epoche harmonischen Zusammenlebens unter den Lebewesen schlechte Taten auf. Als der besorgte Brahma darüber meditierte, erstrahlte ein Licht vor seinem dritten Auge, und das Licht verwandelte sich in ein junges Mädchen. «Vater, was soll ich in der Welt tun?» fragte es verwundert. Brahma erwiderte: «Dein Name sei Tod!»
Das Mädchen begann umherzuschweifen und kam in die Sphäre der Götter, wo es Furcht und Schrecken verbreitete. Die Götter wandten sich in ihrer Hilflosigkeit an Brahma, mit der Bitte, sie vor dem Mädchen zu schützen. Dieser sandte sie zu Vishnu weiter, aber auch er war machtlos und schickte sie zu Shiva. Die Schar pilgerte zum Berg Kailash, fand den Ort jedoch verlassen vor. Da liessen sie sich nieder und konzentrierten ihren Geist auf Shiva, bis sich ihnen folgendes Bild offenbarte: Shiva sass meditierend in einer Höhle, tief versunken in kosmischer Schau. Wie sie der Richtung folgten, in welcher die Vision erschienen war, fanden sie die Höhle am Ende eines vergessenen Gebirgstales. In einiger Entfernung sangen sie Hymnen der Verehrung, da sie es nicht wagten, ihn zu stören. Da schaute Shiva auf. Und wie er die angstvollen Gesichter der Götter bemerkte, fragte er sie, ob sie von Dämonen geplagt würden. Die Götter erzählten die Geschichte von Brahma und vom todbringenden Mädchen. Shiva, als Besieger des Todes, wurde von Mitleid erfüllt. Er nahm die sanft strahlende Mondsichel, die sein Haupt zierte, brach sie entzwei, und sogleich floss Amrita (Nektar der Unsterblichkeit) hervor. Alle tranken davon, badeten im immer stärker anschwellenden Fluss und bekamen ein Alter von sechzehn Jahren. Die Zeit glitt fortan von ihnen ab, sie blieben jung und waren für immer unsterblich. Die Freudenlieder nahmen kein Ende. Shiva war gerührt, löste sich selbst in Wasser auf, verwandelte sich in Licht und sprach zu ihnen: «Ich bin unter Euch, meine Freude ist mit Euch! Von jetzt an wird dieser Ort «Höhle von Amarnath» (Höhle des Herrn der Unsterblichkeit) heissen». Noch immer fliesst im Tal der Fluss, in dem einst die Götter badeten. Er ist als «Amarganga» (Ganga der Unsterblichkeit) bekannt. Hier befindet sich das beliebte Tirtha, in welchem die Yatris baden, bevor sie gereinigt die heilige Höhle betreten.
Das göttliche Paar: Shiva und Parvati
Als Parvati, Shivas Gefährtin, einmal das Geheimnis der Unsterblichkeit zu entschleiern trachtete, fragte sie Shiva um Rat. Da begab er sich mit ihr in dieselbe Höhle, um ihr das Wissen über das Leben ohne Anfang und Ende zu übertragen. Da jedoch geheimes Wissen nicht für alle Ohren bestimmt ist, liess Shiva alle anderen Lebewesen als mögliche Zeugen des Geheimnisses aus diesem Gebiet verbannen.
In einer Vollmondnacht liess sich das göttliche Paar auf einem Tigerfell in der Höhle nieder. Wiederum zierte eine Mondsichel Shivas Haupt, er trug einen Schurz aus Elefantenhaut und Kobras wanden sich um seinen mit Asche beschmierten Körper. In der einen Hand hielt er den Dreizack (Trisul), in der anderen eine Kette mit Rudraksha-Samen. Neben ihm sass Parvati in der Blüte ihrer Schönheit, in einem seidenen Sari, mit Blumengirlanden behängt. Wie der Mond am Himmel auftauchte, begann Shiva zu erzählen. Mit fortschreitender Übertragung des Geheimnisses wurde Parvati jedoch müde und schlief ein. Ein unter dem Tigerfell liegendes, halb-verdorbenes, vergessenes Papageien-Ei hingegen war inzwischen wieder zum Leben erwacht. Die Geräusche des ausschlüpfenden Vogels deutete Shiva als Parvatis Kopfnicken zum Zeichen ihres Verstehens. Das Missverständnis verschwand erst am Ende, als Parvati auf die Frage, ob sie alles verstanden hätte, erwachte und verneinen musste.4 Shiva, verwirrt, sah auf und erblickte den Papagei, den Verursacher der vermeintlichen «Ja»-Geräusche. Er rannte dem Vogel nach, um ihn zu fangen. Die Verfolgung endete vor dem Haus eines Rischi, in welchem der Papagei verschwunden war. Und wie es das Schicksal so wollte, wurde er von der gähnenden Frau des Rischi verschluckt. Der Anstand verlangte von Shiva, vor dem Haus zu warten, bis ihr Mann zurückkam. Als dieser Shiva vor der Haustür wartend vorfand, berührte er ehrfürchtig seine Füsse und fragte ihn nach dem Begehr. Beide konnten in der Folge den Papagei jedoch nicht finden, bis der Weise in seiner Hellsicht die ganze Geschichte sah. Er erkannte, dass es keine Lösung gab, war der Vogel als Zeuge des Geheimnisses doch zu Unsterblichkeit gelangt, die ihm selbst von Shiva nicht mehr genommen werden konnte.
Der Papagei wuchs im Leibe der Frau zu einem Knaben heran. Zwölf Jahre blieb er in ihrem Körper, als wollte er nicht geboren werden. Eine versammelte Götterschar flehte ihn an, sich zu zeigen, und versprach ihm, sich nicht ins weltliche Leben verstricken zu müssen. Schliesslich kam der Knabe ohne Makel zur Welt. Er war sogleich erwachsen und ging in die Waldeinsamkeit. Als Weiser wurde er bekannt und lehrte selbst die Götter.
Von seinen Anhängern wird Shiva als wichtigste Gottheit im hinduistischen Pantheon verehrt. Eine Rechtfertigung dieses Standpunktes bietet ein Mythos, nach welchem sich Vishnu und Brahma um die göttliche Vorherrschaft streiten. Da offenbart sich ihnen Shiva als flammende Säule (Lingam). Als die beiden ihre Grösse erkunden wollen, machen sie sich nach unten und oben auf den Weg, um Anfang und Ende dieser Säule herauszufinden, was ihnen jedoch zu ihrer grossen Verwunderung nicht gelingt. Darauf zeigt sich ihnen Shiva in anderer Gestalt und gibt sich zu erkennen. Vishnu und Brahma müssen darauf wohl oder übel Shivas Überlegenheit akzeptieren (Zimmer, 1978, 412ff).
Das Lingam ist die phallische Offenbarung des höchsten Gottes. Die Zeugungskraft ist himmelwärts gerichtet, hin zur Befreiung – eine Befreiung, die letztlich nur über die Auflösung des Weltlichen, mit anderen Worten: durch Hinwendung zur Askese, erreicht werden kann. So leben in Shiva die Kräfte der Zeugung, der Auflösung und der Befreiung gemeinsam. Die Einheit dieser drei Elemente macht den zeitlosen Allgeist (brahman) aus, welcher allem Sein zugrunde liegt.
Die belebende, gestaltende Energie des Universums wird durch Parvati verkörpert. Ohne Parvati wäre Shiva nichts. Nur mit Hilfe ihrer aktivierenden, wandelbaren Energie (Shakti) ist Shiva fähig, die Welt in seinem endlosen Tanz zu schaffen und zu zerstören. Parvati ist als höchste Shakti untrennbar mit ihm vereint. Nur durch die göttliche Verbindung von Shiva und Parvati ist Schöpfung, in welcher Form auch immer, möglich. Parvati wird in diesem Zusammenhang als weibliches Geschlecht (Yoni) dargestellt, auf welchem das Lingam steht. Im Falle von Amarnath kann die Yoni in der Form der Höhle gesehen werden. In der Höhle von Amarnath werden Shiva und Parvati manchmal auch in der glückverheissenden Form zweier weisser Tauben erblickt.
Für die Anhänger Shivas ist die Lingam-Verehrung ein zentrales Element ihrer religiösen Praxis. Die unzähligen Lingams, über ganz Indien verstreut, werden als senkrecht stehender Stein verehrt, in der Form einer oben abgerundeten Säule. Neben den von Menschenhand geschaffenen, kommt den «aus sich selbst gewordenen» (swayambhuva) Lingams eine besondere Bedeutung zu, sind sie doch von niemandem geschaffen worden und schon seit uranfänglichen Zeiten vorhanden (Kramrisch, 1981, 180). Ihr augenscheinlich unerklärlicher Ursprung lässt sie als Manifestation des unfassbaren Urgrundes allen Seins erkennen, das ohne Anfang und Ende ist, immer vorhanden war und immer sein wird. Der Offenbarung des Göttlichen in der Natur wird im Shivaismus höchste Verehrung zuteil. In der Höhle von Amarnath verkörpert sich Shiva als Herr der Unsterblichkeit in der Form eines natürlichen Eis-Lingams.
Auf den vielen Hausbooten mit ihren exotisch klingenden Namen verweilten seit den 60-er Jahren viele Hippies und Backpacker tage- und wochenlang auf dem Dal Lake im indischen Teil von Kaschmir, um sich von den Strapazen des Reisens zu erholen und verwöhnen zu lassen. Die Idylle des fruchtbaren Hochtals, zu Füssen der schneebedeckten Berge des westlichen Himalaya, wurde auch von unzähligen frisch verheirateten indischen Paaren und weiteren Touristen aufgesucht. Obwohl das Gebiet wegen der Nachbarschaft zum rivalisierenden Nachbarn Pakistan politisch spannungsgeladen war, war dies für die Touristen bis Ende der 80-er Jahre kaum spürbar.
Kaschmir ist in einen indischen und einen pakistanischen Teil getrennt, was ein Resultat der Aufteilung Indiens nach der Unabhängigkeitserklärung von 1947 ist. Da auch der indische Teil von Kaschmir vorwiegend von Muslimen bewohnt wird, entstand hier eine separatistische Bewegung, welche eine Vereinigung der getrennten Gebiete unter muslimischer Herrschaft anstrebt. Indien wirft der pakistanischen Seite vor, die Separatisten zu unterstützen, und versucht durch ein grosses Militäraufgebot die Situation unter Kontrolle zu halten. Trotz aller Bemühungen kommt es seit Ende der 80-er Jahre immer wieder zu Unruhen zwischen den verfeindeten Lagern. Wegen terroristischer Gewalt, Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften sowie militärischen Auseinandersetzungen zwischen indischen und pakistanischen Truppen, ist der Tourismus – bis dahin die wichtigste Einnahmequelle in Kaschmir – zunehmend versiegt.
Die Pilger auf dem Weg zur Höhle von Amarnath waren für die separatistischen und dschihadistischen Gruppen, welche aus dem Untergrund heraus agierten, eine ideale Zielscheibe, um sich gegenüber den Hindus zu positionieren. Unter all den terroristischen Anschlägen in Kaschmir hatten diejenigen auf die Amarnath Yatra auch einen grossen ideologischen und propagandistischen Wert. Die Extremisten konnten dadurch zeigen, dass Hindus, welche aus verschiedenen Gebieten Indiens angereist waren, im muslimisch dominierten Kaschmir nichts zu suchen hätten.
Hier eine Chronik der wichtigsten terroristischen Ereignisse: Während die Pilger tagelang zu Fuss im unbewohnten Gebirge unterwegs waren und in einfachen Zeltlagern übernachteten, wurden sie mehrmals unschuldige Opfer brutaler Anschläge. In den Jahren 2000, 2001, 2002 und 2017 kamen bei unvorhergesehenen Attacken insgesamt 121 Pilger um. Dazu kamen tödliche Opfer von 20 muslimischen Dienstleistern und 11 Sicherheitsleuten sowie viele Verwundete. Über die Pilgerreise zum Ort der Unsterblichkeit hatte sich der Schatten des Todes gelegt.
Eine tragische Aktion war zudem die Entführung und Verschleppung von sechs westlichen Touristen im Jahre 1995. Nur ein Amerikaner konnte entfliehen, die anderen blieben in Gefangenschaft. Alle Appelle und Verhandlungen der Opferländer, um die Freilassung der Geiseln zu erwirken, blieben erfolglos. Gemäss offiziellen Berichten sollen sie noch im Dezember desselben Jahres hingerichtet worden sein.
Die verschiedenen Anschläge trafen die Hindus im Innersten, bei der friedlichen Ausübung ihrer Religion im eigenen Land. Zudem gehört der indische Teil von Kaschmir aus ihrer Perspektive zu ihrer eigenen kulturellen Einflusssphäre. Vom 9. bis 12. Jahrhundert galt Kaschmir als wichtiges Zentrum hinduistischer Gelehrsamkeit und Kultur. Das Gebiet wurde bis 1346 von Hindu-Dynastien regiert, bevor es unter muslimische Herrschaft geriet.
Religion als ideologische Grundlage für die Separatistenbewegung und als Rechtfertigung für Übergriffe auf Andersgläubige ist leider in diesem umstrittenen Grenzgebiet eine treibende Kraft geworden. Auf der anderen Seite ist ein Erstarken des nationalistisch geprägten Hinduismus in Indien zu beobachten, was dazu geführt hat, dass sich unter der gegenwärtigen Regierung Indiens Angehörige von Minderheiten – die grösste Minderheit sind die Muslime – zunehmend als Bürger zweiter Klasse empfinden. Von daher sind eine Beilegung des Konfliktes und ein friedliches Zusammenleben der verschiedenen Gemeinschaften in Kaschmir nicht in Sicht. Nach den tragischen Übergriffen kann die Yatra nur noch unter grossem militärischen Begleitschutz durchgeführt werden.
Der Himalaya hat seit Menschengedenken einen bedeutenden Stellenwert in der religiösen Vorstellungswelt der Hindus. Die mythologische Bedeutung von Bergen als Sitz der Götter, von heiligen Flüssen und von Orten, an welchen sich göttliche Geschehnisse abgespielt haben, ist allgegenwärtig, was dazu geführt hat, dass «die grosse Mehrheit gläubiger Hindus den Himalaya nicht als Reallandschaft im naturwissenschaftlichen Sinne, sondern als mythisch durchwirkten Sakralraum und homogene Einheit sehen» (Grötzbach, 1994, 183). Die Pilgerreisen zu den verschiedenen Quellorten der heiligen Flüsse Ganges und Jamuna, sowie zum Berg Kailash im südlichen Tibet, auf welchem Shiva thront – zusammen mit seiner Gemahlin Parvati, der göttlichen Tochter des Bergkönigs Himalaya – gelten als besonders verdienstvoll. Auch die Reise zur Höhle von Amarnath steht in der Gunst der Pilger weit oben, obwohl dieser Pilgerort nur unter Gefahren und grossen Strapazen erreichbar ist, wenn man von einem neueren Trend absieht, den Helikopterflügen, welche vermögende Pilger in Kürze zum Heiligtum bringen.
Als ich 1981 an der Yatra teilnahm, waren lediglich etwa 10’000 Pilger zur Höhle von Amarnath unterwegs. Dass es einmal wie im Jahre 2023 rund 428’000 sein werden, hätte wohl niemand vorauszusagen gewagt. Ein Element dieser Entwicklung ist sicherlich die Verbesserung der Transportmöglichkeiten, aber noch mehr kann davon ausgegangen werden, dass die Pauschalangebote von Reisebüros, welche Pilgerreisen in Indien als lukratives Nischenprodukt in ihrem Angebot haben (Auckland, 2018, 292), auch die Reise zur Höhle von Amarnath einem breiteren Publikum zugänglich und schmackhaft gemacht haben. Nun birgt der stetig wachsende Pilger-Tourismus allerdings auch Gefahren in sich. Nach Coleman und Crang
«ist der moderne Tourismus eine im innersten Kern expansive Ökonomie, die sich immerzu neue Erfahrungen und neue Orte aneignet bzw. konstruiert. Eine solche Aktivität trägt ironischerweise jedoch den Keim der eigenen Zerstörung in sich, denn bereits die blosse Anwesenheit des Touristen korrumpiert das Ideal, eine authentische und vollkommen andersartige Kultur zu erreichen» (zit. nach d’Eramo, 2018, 90).
Mit der zunehmenden Popularisierung des Pilgerns und dessen Vereinnahmung durch die Tourismus Industrie sind die Grenzen zwischen Pilgern und Tourismus fliessend geworden. Oft ist die Teilnahme an einer Yatra ein religiöses und zugleich ein touristisches Erlebnis – das eine schliesst das andere nicht aus (Auckland, 2018, 209). Für eine alte Frau vom Lande, welche barfuss und in einen dünnen Baumwollsari gekleidet die heilige Höhle erreicht, bedeutet die Teilnahme an der Yatra etwas Anderes als für den jungen Angestellten aus der Grossstadt, welcher sich gut ausgerüstet mit Freunden auf die abenteuerliche Reise eingelassen hat – dokumentiert mit Selfies, die er umgehend auf verschiedenen sozialen Netzwerken verbreitet. Was allerdings nicht heisst, dass letzterer beim Darshan in der Höhle nicht ein Gebet zum Himmel schickt, welches die langersehnte Erfüllung einer Herzensangelegenheit beinhaltet.
Die meisten Tirthas locken die Pilger weit weg von ihrer gewohnten Umgebung. Der Ausbruch aus dem Alltag, die Reise in eine unberührte Gebirgslandschaft, das Verweilen an mythologisch bedeutsamen Kraftorten entlang des Pilgerweges und schliesslich die Begegnung mit dem verehrten Heiligtum hinterlassen bei den Yatris unvergessliche Erlebnisse, welche ihren zukünftigen Lebensweg beeinflussen können. Orte wie Amarnath liegen für sie am Ende der Welt, weit weg vom Vertrauten und von jeglicher Unterstützung. In diesem Sinne führt das Tirtha in einen jenseitigen Bereich – von welchem die gewohnte Umgebung und das alltägliche Leben aus der Ferne betrachtet werden können. Oft fällt es nun leichter, soziale und materielle Bindungen und eventuell damit verbundene Probleme klarer zu erkennen. Mit gewonnener Einsicht, Zuversicht und Energie kehren die Pilger wieder an den Ausgangspunkt ihrer Reise zurück.
Der gegenwärtige Boom des Pilgerns in Indien zeigt letztlich auch, dass angesichts der kulturellen Entfremdung und des religiösen Vakuums, verursacht vom durchgetakteten Rhythmus einer masslosen globalen Entwicklungsstrategie, das Bedürfnis der Hindus nach einer identitätsstiftenden Rückbesinnung auf die eigenen kulturellen Wurzeln und religiösen Werte gewachsen ist. Diesbezüglich unterscheidet Kakar jedoch zwischen zwei verschiedenen Typen: dem “Hindu Nationalist” und dem “flexible Hindu” (2007, 134-151). Auch wenn sich ihre Lebensperspektiven nicht auf einen Nenner bringen lassen, haben für beide traditionelle Werte und religiöse Praktiken, einschliesslich des Pilgerns, einen wichtigen Stellenwert.
Wie Kakar schreibt, ist die Sichtweise eines Hindu Nationalisten eher rückwärtsgewandt und konservativ:
“The Hindu nationalist is attempting to confront the processes of modernization and changes in family structure with a new articulation of Hindu values and norms. For one, his is the call to keep the Hindu family atmosphere free of all cultural pollution. Since he believes the ongoing invasion of Indian cultural space by Western values is a conspiracy by forces determined to weaken India by uprooting it from its traditions, the Hindu nationalist reacts by seeking to build a united front against the cultural assault of globalization from within the family” (2007, 136).
Gemäss Kakar versucht der progressive, flexible Hindu hingegen Moderne und Tradition miteinander in Einklang zu bringen:
“It is modernity that has turned religious pilgrimages into a mass phenomenon. Greater mobility, more money and regular hours of work make it possible for the flexible Hindu to seek out touristy pilgrimage destinations on weekend family outings or vacations. The interest in pilgrimages is not limited to the older generation; even youths and young adults go on pilgrimages with family or friends, linking the pleasures of community and leisure time to religious goals” (2007, 145).
“… irrespective how Westernized a flexible Hindu may be, his weekend or package-tour pilgrimages, his turning to gurus, keeping fasts or integrating New Age practices in his life all connect him to tradition and affirm his Hindu identity. In other words, the flexible Hindu’s response to modernity is not a turning away from his religious heritage but giving it a new form and adapting it to his changed life circumstances” (2007, 149).
Über die sozio-kulturelle Zusammensetzung der Pilgermassen ist noch wenig bekannt. Zwischen dem nationalistisch gesinnten und dem flexiblen Hindu gibt es gewiss noch Zwischenschattierungen. Doch, wo auch immer die Einzelnen im Leben stehen mögen, das Pilgern und die Revitalisierung traditioneller Werte geben ihnen sowohl ein Gefühl der Identität und der Zugehörigkeit, als auch eine spirituelle Perspektive, welche die alltäglichen Anliegen und Entwicklungen zu relativieren vermag.
Die weltliche Entwicklung ist kein absoluter Wert an sich, es gibt ein Leben, welches über das weltliche hinausführt. Dieser Vorstellung entspricht auch das «vier-Stufen-Modell», welches die hinduistische Tradition für den menschlichen Lebenslauf vorsieht. Nach einer ersten Stufe als Schüler und einer zweiten als Ehemann oder Ehefrau, wo die Familie und das weltliche Leben im Vordergrund stehen, sind die beiden folgenden Stufen nach einer Befreiung von weltlichen Angelegenheiten ausgerichtet. Mit dem «Aufbruch zum Walde» in der dritten Phase macht sich der Mensch zunächst auf die Suche nach dem Selbst (atman), das als Teil des Allgeistes (brahman) verstanden wird. Das Einsiedlerleben im Walde ist eine Zeit des Lernens, welche abgeschlossen werden muss, bevor letztlich mit dem Leben eines heimatlosen Pilgers begonnen werden kann, der bettelnd auf der Strasse der Ewigkeit dahinzieht.
Bereits in den Weisheitslehren der Veden, welche vor rund 5’500 Jahren von den Rischis durch göttliche Eingebung empfangen wurden, wird das Reisen an sich als verdienstvolle Tätigkeit beschrieben. Der Gott Indra sagt zum König Harischandra: “There is no happiness for the person who does not travel; living amongst men, even the best man frequently becomes a sinner; for Indra is the traveller’s friend. Hence travel!” (zit. nach Bharati, 1963, 136). Wie der Bericht über die Pilgerreise nach Amarnath zeigt, hat das Reisen in der Yatra seinen vollendeten Ausdruck gefunden.
Photos
Alle Photos, bei welchen keine Urheberschaft angegeben ist, stammen vom Autor des Berichtes (Peter Eppler).
Aukland, K. (2018). Repackaging India’s Sacred Geography: Travel Agencies and Pilgrimage-Related Travel. Numen, 65(2–3), 289–318. https://www.jstor.org/stable/26566256
Bharati, A. (1963). Pilgrimage in the Indian Tradition. History of Religions, 3(1), 135–167. http://www.jstor.org/stable/1062081
Bhardwaj, S.M. (1973). Hindu Places of Pilgrimage in India. A Study in Cultural Geography. Thomson Press.
d’Eramo, M. (2018). Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters. Suhrkamp Verlag.
Eliade, M. (1985). Yoga, Unsterblichkeit und Freiheit. Suhrkamp Taschenbuch.
Grötzbach, E. (1994). Hindu-Heiligtümer als Pilgerziele im Hochhimalaya (Hindu Shrines as Pilgrim Destinations in the High Himalayas). Erdkunde, 48(3), 181–193. http://www.jstor.org/stable/25646592
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Zu unerschrocken und beharrlich haben gewisse Menschen ihr Lebensziel verfolgt, zu abenteuerlich waren ihre unvorhersehbaren Wege, als dass die besondere Bedeutung ihres Wirkens nicht zumindest aufgefallen und manchmal auch bewundert und honoriert worden wäre. Zu diesen Menschen gehörte Alexander Csoma von Körös (1784 – 1842), welcher bereits als Knabe aus dem Rahmen fiel. Sein Cousin Joseph berichtete: «Als Jungen konnten wir nie mit ihm mithalten, weil er niemals zufrieden war, wenn er den Gipfel eines Berges erreichte, immer wollte er wissen, was dahinter war und hinter dem nächsten, und so legte er oft riesige Entfernungen zurück» (zit. nach Fox, 2006, 13). Dieser Forscherdrang war eine treibende Kraft auf seinem Lebensweg, welcher nicht nur in ferne Welten, sondern auch weit über den Horizont der damaligen Wissenschaft hinaus führen sollte.
Doch alles der Reihe nach. Csoma war von der Gemeinde Körös in Siebenbürgen, das im heutigen Rumänien liegt. Hier verbrachte er gegen Ende des 18. Jahrhunderts seine Kindheit und Jugendjahre. Wie die übrigen Einwohner von Körös gehörte auch seine Familie zur ungarisch stämmigen Volksgruppe der Szeklern. Die Familie fristete auf einem kleinen Bauernhof ein entbehrungsreiches Leben, voller Mühen und harter Arbeit. Da Csoma jedoch ein begabter und gewissenhafter Schüler war, hatte er das Glück, nach der Grundschule eine höhere Schulbildung in der Stadt Nagyenyed zu erhalten, in einem Kollegium, welches durch wohltätige Mittel finanziert wurde. Da er aus armen Verhältnissen kam, musste er in den ersten Jahren niedrige Arbeiten verrichten, um etwas Taschengeld zu verdienen. Später, nachdem er mit 23 Jahren erfolgreich das Examen bestanden hatte, konnte er den jüngeren Schülern gegen Entgelt Nachhilfeunterricht geben, was seine Lebensumstände stark verbesserte. Nach dem letzten Examen wurde er mit einem Stipendium für weitere Studien an der Universität Göttingen belohnt. Zu dieser Zeit war er bereits ein gestandener Philologe, der neben Ungarisch weitere Sprachen wie Latein, Griechisch, Hebräisch, Französisch, Deutsch, Rumänisch und Türkisch beherrschte. In Göttingen kamen Englisch und Arabisch hinzu, sowie Grundkenntnisse in Italienisch und Spanisch.
Da die Ungarn zu dieser Zeit unter der gestrengen Herrschaft des österreichischen Reiches litten, gab es einen wachsenden Unmut unter der Bevölkerung. Für die nationalistische Unabhängigkeitsbewegung war die Besinnung auf die eigene Herkunft und Sprache deshalb von grosser Bedeutung (Lussier, 2010, 88). Das Ungarische war ein Mysterium, da es keinerlei Verbindungen zu anderen europäischen Sprachen zu haben schien. Es war naheliegend, dass Csoma sich als Philologe ebenfalls Gedanken über den Ursprung der eigenen Sprache machte.
Die Legende, dass die Ungarn von den Hunnen abstammten, welche im 5. Jahrhundert als heldenhafte Reiter von Osten herkommend nach Europa einfielen, und Attila ihr Heerführer der erste König der ungarischen Nation wurde, bedeutete in diesem politischen Klima eine attraktive Verheissung, der sich Csoma und einige seiner Freunde nicht entziehen konnten (Fox, 2007, 21 und Le Calloc’h, 1985,31). In Csoma reifte allmählich der Plan, die Heimat der Ur-Ungarn und des Ungarischen in Zentralasien zu suchen, obwohl ihm in seiner Heimat zwei Stellen als Lehrer angeboten worden waren und zudem Aussicht auf eine frei werdende Stelle als Professor bestand.
Seinem Forscherdrang gehorchend brach er am 19. November 1819 mit leichten Gepäck zu seiner patriotischen Mission auf, nicht ohne vorher mit seinem alten Professor Hegedus mit einem Glas Tokajer auf ein gutes Gelingen angestossen zu haben. Vor Konstantinopel erfuhr er von einer Epidemie, was ihn bewegte, die Reiseroute zu ändern. Er setzte mit einem Schiff von der türkischen Küste nach Alexandria über, um seine Arabisch-Kenntnisse zu verbessern. Jedoch auch in Ägypten wütete eine Epidemie, diesmal die Pest, welcher er wieder entfliehen musste. Zu Fuss, sich ab und zu Karawanen anschliessend, reiste er durch den Nahen Osten. Er war darauf bedacht, möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erwecken, und legte seine europäische Identität ab, indem er sich in lokale Gewänder gekleidet als Armenier ausgab.
In Teheran war er einige Monate zu Gast in der britischen Botschaft, wo er die persische Sprache verbessern und sich auf die gefahrvolle Weiterreise vorbereiten konnte. Es ist wenig über die genaueren Umstände der Reise von Csoma bekannt, da er kein Tagebuch schrieb und keinerlei Aufhebens über sich und seine persönliche Befindlichkeit machte. Es gibt jedoch zwei Briefe, welche er dem britischen Botschafter übergab, adressiert an sein früheres Kollegium in Nagyenyed. Sie lassen uns besser verstehen, was Csoma in seinem Innersten umtrieb. Im ersten Brief schrieb er:
«Nachdem es mir immer schon eine Freude war, mich mit dem Studium fremder Sprachen zu beschäftigen und die Zusammenhänge von Zeit, Ort und Umgebung in der Geschichte der Völker zu erforschen, habe ich es mir insbesondere zum Ziel gesetzt, mich hauptsächlich in diesen Bereichen weiterzubilden. Die Freude, die ich bei der Entdeckung so vieler Geheimnisse längst verlorener Zeiten empfand, ist unbeschreiblich.»
«Dieses Wissen war mir umso wertvoller, als ich zu der absoluten Überzeugung gelangt bin, dass ich, wenn Gott mich am Leben lässt, innerhalb kurzer Zeit das ausführen und beweisen kann, wonach sich die Anhänger und Freunde unserer und unserer Literatur schon so lange sehnen … die ursprüngliche Heimat unseres Volkes» (zit. nach Fox, 2007, 34-35).
Während der erste Brief als berührende Rechtfertigung seiner Mission gesehen werden kann, ist der zweite, der erst im Falle seines Todes abgeschickt werden sollte, eine Art Vermächtnis an seine Freunde in der Heimat. Darin gab Alexander Csoma preis, wo genau er die Heimat der Ur-Ungaren zu finden hoffte:
«Die alte Heimat unserer Vorfahren», verkündete er, ist «das grosse und das kleine Buchara», … die zum einen in der früheren Sowjetrepublik Usbekistan liegen und zum anderen in Yarkand, nördlich des Hochlands von Tibet» (zit. nach Fox, 2007, 36).
Wie aus diesen Briefen ersichtlich ist, hat Csoma vermutlich geahnt, dass mit der Weiterreise der Punkt ohne Wiederkehr gekommen war. Nach mehr als einem Jahr und vier Monaten unterwegs verliess er Teheran und wagte sich in bis dahin nur wenig bekannte Gebiete vor. Welchen unvorhersehbaren Ausgang diese Reise einmal haben würde, hätte er sich damals wohl selbst in den kühnsten Träumen nicht ausmalen können.
Durch Afghanistan, über den Khaiber-Pass und durch das heutige Pakistan führte der Weg nach Indien. Vom heutigen Punjab aus wanderte Csoma nach Norden, ins Kaschmirtal mit dem alten Handelsplatz Srinagar, zu Füssen der Schneeberge des westlichen Himalaya-Gebirges gelegen. Von hier brach er nach Ladakh auf, von wo er beabsichtigte, weiter nach Yarkand zu reisen. Nach den grünen Tälern in Kaschmir wand sich der Pfad zum Zorji-La Pass hoch (3528 m), wonach die Landschaft immer karger, die Täler zerklüfteter und die nachfolgenden Pässe noch höher wurden. Nach dem dritten Pass, dem 4108 m hohen Fatu-La, ging es in endlosen Serpentinen, vorbei am Kloster Lamayuru, hinunter an den Indus. Stromaufwärts in Richtung Leh, der Hauptstadt Ladakhs, begegnete der Reisende immer wieder Zeugen buddhistischer Kultur, denn Ladakh war damals ein buddhistisches Königreich mit grossen Klöstern und Tempeln verschiedener Epochen.
In Leh angekommen, versuchte Csoma eine Karawane ins nördlich gelegene Yarkand zu finden. Zu seinem Leidwesen wurde er immer wieder abgewiesen, niemand wollte den Fremden mitnehmen. Es war nämlich, wie Fox (2007, 43) erwähnt, für Ausländer verboten, nach Tibet einzureisen. Csoma hatte deshalb keine andere Wahl, als wieder nach Kaschmir zurückzukehren.
Auf dem Weg machte er die zukunftsbestimmende Bekanntschaft mit William Moorcroft, ein abenteuerlustiger Mann, welcher als Veterinär im Dienste der britischen East India Company stand. Auf der Suche nach geeigneten Pferden hatte auch er ohne Erfolg von Leh aus eine Passage nach Yarkand gesucht. Moorcroft und Csoma teilten diesbezüglich dasselbe Schicksal, obwohl sie sonst kaum verschiedener hätten sein können. Moorcroft war mit allem ausgestattet, was das Leben eines Reisenden bequem machte, hatte eine Entourage von Bediensteten und konnte auf die Unterstützung der East India Company zählen. Csoma hatte dagegen kaum das Notwendigste dabei, kam in abgetragenen armenischen Kleidern daher und war völlig auf sich selbst gestellt. Trotzdem freundeten sie sich an und zollten sich gegenseitig Respekt. Moorcroft sah in Csoma das Potenzial, sich über Grenzen hinwegzusetzen, das Unvorstellbare zu wagen, ohne sich über die eigene Befindlichkeit gross zu kümmern. Schliesslich vermochte er ihn dazu zu bewegen, Tibetisch zu lernen, als Schlüssel für weitere Erkenntnisse über die Völker Zentralasiens, mit Aussicht auf das Aufspüren des Ursprungs der ungarischen Sprache. Natürlich hatte der praktisch veranlagte Moorcroft auch das Ziel vor Augen, durch das Entschlüsseln der tibetischen Sprache den Zugang zum weitgehend unbekannten Dach der Welt zu ermöglichen, was für die Engländer von politisch-wirtschaftlichem Interesse war.
Als er Moorcroft begegnete, war Csoma seit seiner Abreise von Siebenbürgen bereits zwei Jahre und neun Monate unter entbehrungsreichen Umständen unterwegs und stand vor einem ungewissen Schicksal. Neben dem Interesse als Forscher waren wohl zum einen die Annehmlichkeiten des täglichen Lebens, welche er in der Gesellschaft von Moorcroft erfuhr, und zum anderen die Wertschätzung des Briten für seine Sprachbegabung und Gelehrtheit nicht zu unterschätzende Gründe dafür, dass sich Csoma auf die Erforschung der tibetischen Sprache einliess. Zudem erhielt er von Moorcroft eine finanzielle Unterstützung und einige Empfehlungsschreiben, was ihm eine gewisse Aussicht auf Erfolg der bevorstehenden Mission verhiess. Als er sich von seinem britischen Wohltäter verabschiedete, hatte er «dreihundert Rupien von Moorcroft bei sich und Empfehlungsschreiben an Tsewang Dhondup, dem … Premierminister von Ladakh, und an den Lama Sangye Phuntsog, dem Abt des Klosters Zangla, einige Tagereisen von Leh entfernt im benachbarten Königreich Zanskar gelegen» (Fox, 2007, 52). Damit wurde Csoma Teil eines Systems, das ihm neben einer gewissen Sicherheit die Freiheit bot, in unbekannte wissenschaftliche Bereiche vorzustossen. Was er damals allerdings nicht wusste, war die Tatsache, dass die Zeit von einem Jahr für die vorgesehene Arbeit nie und nimmer ausreichen würde.
Nach einem neuntägigen Fussmarsch kam Csoma im Kloster Zangla in Zanskar an. Über ein Jahr verbrachten Csoma und der gelehrte Lama Sangye Phuntsog in einer kleinen Zelle unter einfachsten Verhältnissen und studierten über den losen Seiten der umfassenden Büchersammlungen des Kangyur (die «übersetzten Worte Buddhas») und Tengyur (die Kommentare buddhistischer Meister Indiens), welche zusammen über 300 Bände umfassten. Csoma tauchte ein in eine unbekannte Welt, welche ihn in den Bann zog und seinen Forschergeist zutiefst befriedigte. Doch was wertvoll ist, wird im Leben oft nur durch Entbehrungen und besondere Anstrengungen erlangt: «Sie ernährten sich aus einer Art Suppe aus Wasser, Tee, Salz, Yak- oder Schafsblut, Butter und Gerstenmehl. … Im Winter verliessen sie den Raum vier Monate lang überhaupt nicht. Es grenzte an ein Wunder, dass keiner der beiden Männer erfror» (Fox, 2007, 58), zumal in Zangla die durchschnittliche Temperatur im Januar auf – 20° C fallen kann.
Um die Studien in einem angenehmeren Umfeld fortzusetzen, beschlossen sie, sich ins südlich gelegene Hügelgebiet von Himachal Pradesh zu begeben. Leider erschien der Lama zum festgelegten Zeitpunkt nicht am verabredeten Ort, mit der Begründung, dass ihn wichtige Geschäfte zurückgehalten hätten.
Etwas ernüchtert kehrte Csoma nach dem Winter, als die hohen Pässe wieder offen waren, nach Zanskar zurück. Diesmal traf er sich mit dem Lama im Kloster Puktal, dessen Gebäude sich unterhalb einer grossen Höhle an eine steil abfallende Felswand schmiegten.
Mit dem Lama konnte sich Csoma wieder in seine Studien vertiefen, was durch die Abgeschiedenheit des Felsenklosters gefördert wurde, denn es gab kaum Möglichkeiten für Zerstreuungen, welchen der Mensch normalerweise in allen erdenkbaren Formen nachzugehen beliebt. Allerdings hatte der Lama, der für seine Gelehrsamkeit weit herum bekannt war, öfters andere Aufgaben wahrzunehmen, was die Studien immer wieder verzögerte. Zudem waren die äusseren Lebensumstände in Puktal ähnlich schwierig wie beim ersten Aufenthalt in Zanskar im Kloster Zangla, vor allem in den Wintermonaten.
Es war hier in Puktal, wo ich auf die Lebensgeschichte des ungarischen Forschers gekommen bin. Als ich im Jahre 1978 zum ersten Mal in einem Lastwagen und anschliessend zu Fuss in zehn Tagen durch Zanskar reiste, wurde ich in der Höhle von Puktal überraschend auf einen Stein aufmerksam gemacht, auf welchem der Name «Alexander Csoma de Körös» und die Dauer seines Aufenthalts eingemeisselt war. Meine Überraschung war gross. Wie um alles in der Welt kam es, dass sich ein Ausländer von August 1825 bis November 1826 ins Kloster Puktal zurückgezogen hatte?
Da ich auf der Reise keinem Menschen begegnet war, mit dem ich mich sprachlich hätte verständigen können, und Reiseinformationen weitgehend fehlten – es gab damals keine Reisebeschreibungen und kein Kartenmaterial über dieses hochgelegene, dünn besiedelte Gebiet – überkam mich das Gefühl, mich an einem der abgeschiedensten Orte der Welt zu befinden. In Puktal angekommen, wusste ich, dass der Weg in den nächsten drei Tagen durch unbewohntes Gebiet führen würde, durch Täler mit Schneefeldern und endlosen Geröllhalden, über den Shingo La Pass (5048 m), welcher Zanskar von Himachal Pradesh trennt, und weiter einem schmalen Pfad entlang, der in Darcha auf den Leh-Manali-Highway stiess. Aus der Perspektive des einsamen Wanderers, welcher dem Wohlwollen der lokalen Bewohner und den Launen der Natur ausgesetzt war, schien mir der Aufenthalt von Csoma in Puktal vor 143 Jahren besonders bewundernswert.
Das Leben in Puktal, welches sich in der Abgeschiedenheit während Jahrhunderten kaum verändert hatte, wurde in den letzten Jahren von modernen Entwicklungen eingeholt. Eine Strasse steht vor dem Abschluss. Eine eindrückliche Filmdokumentation «Hidden Tibetan Buddhist Monastery in Zanskar | BBC Documentary», welche auf YouTube gesehen werden kann, zeigt die Atmosphäre in Puktal und anderen Orten in Zanskar im Jahre 2016. Die Mönche in Puktal und die Bewohner in den Dörfern zeigen sich im Film beunruhigt über die Veränderungen, welche die neue Strasse mit sich bringen wird.
Die ausgiebigste Schaffensperiode von Csoma war anschliessend in den Jahren 1825 bis 1830 im südlich gelegenen Hügelgebiet von Himachal Pradesh, im kleinen Dorf Kanum, zu welchem auch eine Gompa (Kloster) mit einer umfassenden Sammlung tibetischer Schriften gehörte. Hier war es nicht nur angenehmer zu leben und zu arbeiten, es gab zudem die Möglichkeit mit Vertretern der britischen Behörden in Kontakt zu treten. Die Vereinbarung war, dass Csoma die Schaffung einer Grammatik und eines Wörterbuchs der tibetischen Sprache vollenden und die Werke den britischen Behörden zur Verfügung stellen würde. Die Behörden ihrerseits unterstützten Csoma wie bis anhin mit einem monatlichen Honorar, welches ihm ein einfaches Leben und die Bezahlung der Dienste des Lamas ermöglichte.
Der Sitz der englischen Behörden, mit welchen Csoma zu tun hatte, war in Sabathu, Himachal Pradesh. Hier residierte Captain Kennedy und war der Mittelpunkt der damaligen besseren Gesellschaft von Offizieren und Vertretern der lokalen Aristokratie. Die Beziehung zwischen Csoma und dem britischen Aussenposten war anfangs schwierig. Als er sich aus Zanskar kommend, abgezehrt und in abgetragenen Kleidern bei Captain Kennedy in Sabathu vorstellte, war die Verwunderung unter den anwesenden Briten gross. Niemand wusste, wer dieser Sonderling war. Zuerst mussten Erkundigungen eingeholt werden, bevor ihm die Bewilligung erteilt werden konnte, seinen Studien im nahe gelegenen Kanum nachzugehen. Dieses Prozedere kränkte Csoma. Er hatte erwartet, dass er nicht wie ein Spion, sondern wie ein angesehener Forschungsreisender und Freund von Moorcroft, dessen Empfehlungsschreiben er bei sich trug, empfangen zu werden. Bis Captain Kennedy sich persönlich von der Integrität Csomas überzeugen konnte und die Bewilligung seiner Vorgesetzten für die weiteren Studien von Csoma erhielt, vergingen einige Monate. Eine Zeit, welche für Csoma schwierig zu ertragen war: «Sein Wort war angezweifelt worden, man hatte seine Zeit verschwendet, und er hatte sich in der Offiziersmesse von Sabathu in der entwürdigenden Gesellschaft zechender Junggesellen bewegen müssen …» (Fox, 2007, 69). Wie froh musste er gewesen sein, als er sich absetzen und in sicherer Entfernung zum britischen Aussenposten seine Studien wiederaufnehmen konnte.
Im ruhigen und klimatisch angenehmen Kanum verbrachte Csoma die nächsten Jahre, fachlich unterstützt durch den gelehrten Lama und mit finanzieller Hilfe der Engländer. Hier vollendete Csoma sein epochemachendes Werk, eine Leistung, welche vom italienischen Tibetologen Petech folgendermassen gewürdigt wurde:
«Let me please put on record here that his dictionary, his grammar and analysis of the Kangyur are still utilized with profit; but what is more important, he was the starting point of an unbroken line of scholars who did research in and on Tibet, and above all who loved Tibet and the Tibetans» (1989, 156).
Es entging den Briten nicht, dass die Arbeit von Csoma nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern auch aus politisch-ökonomischer Sicht von Bedeutung war. Seine Studien konnten ihnen dazu verhelfen, den Einfluss ihres Empires auf Tibet auszudehnen. Sie luden deshalb Csoma nach Calcutta ein, wo sie ihm eine Stelle als Bibliothekar in der Asiatic Society anboten. Hier konnte er sein Werk bereinigen und für die Publikation vorbereiten.
Auch in Calcutta blieb Csoma ein Sonderling, der sich meistens in seinem Zimmer mit seinen Schriften beschäftigte, auf dem Boden schlief und kaum Anteil am gesellschaftlichen Leben nahm. Nur wenige Zeitgenossen konnten ihm, wenn auch nur gedanklich, auf seinen Wegen folgen. Diejenigen, welche ihn näher kennen lernten, schätzten die Ernsthaftigkeit und den Eifer, mit welchen er seine Arbeit wahrnahm. Hatte er einmal Vertrauen geschöpft, konnte er sich öffnen und teilte gerne mit, womit er sich beschäftigte. Reverend Dr. Malan schrieb über seine Bekanntschaft mit Csoma:
«I used to delight in his company, he was so kind and so obliging, and always willing to impart all he knew. He was altogether one of the most interesting men I ever met» (zit. nach Duka, 1885, 167).
Beim Lesen über Csoma und seinen Lebensweg kam er mir manchmal vor wie ein Wesen von einem anderen Stern, der auf dem Planeten Erde gelandet war, um seine einsame Mission zu erfüllen. Er hat zwar nie gefunden, was er gesucht hat, doch mehr erreicht als alle Philologen seiner Zeit: die Erforschung und Entschlüsselung einer unbekannten Sprache und Kultur. Dem engen Vertrauten Dr. Gerard vertraute er einmal an, dass ihn das Beenden seiner Forschungsarbeit zum glücklichsten Mann der Welt machen würde, der im Frieden sterben könne, in der Gewissheit seine Bestimmung erfüllt zu haben (Duka, 1885, 39).
Im Jahre 1834 war das Lebenswerk von Erfolg gekrönt. Die Grammatik und das Wörterbuch der tibetischen Sprache wurden zum Druck gegeben. Csoma wurde am 6. Februar 1834 einstimmig zum Ehrenmitglied der Asiatic Society in Calcutta gewählt.
Schliesslich fühlte sich Csoma nach Abschluss seiner Forschung frei von weiteren Verpflichtungen. Er besann sich wieder auf seine ursprüngliche Mission, nach Yarkand zu reisen, an den vermeintlichen Ursprung seiner Vorfahren. Dafür wollte er über die Hauptstadt Lhasa in Tibet reisen, was er nun dank seiner Tibetisch-Kenntnisse für möglich erachtete. Es sollte jedoch nicht soweit kommen. Nachdem er sich im feuchten Tiefland des Terai mit Malaria angesteckt hatte, erreichte er Darjeeling, eine beliebte Hill-Station der Briten, mitten in Tee-Plantagen gelegen. Hier erlag er dem Fieber und fand seine letzte Ruhestätte. Noch heute kann in Darjeeling fern der Heimat sein Denkmal besucht werden.
Eine Weihe der besonderen Art erhielt Csoma rund hundert Jahre später (1933) durch die Ernennung zum Bodhisattva, in einer feierlichen Zeremonie in der Taisho Buddhist University in Tokio, und die Einweihung seiner Statue in Meditationshaltung (Lussier, 2010). Die Ernennung zum Bodhisattva ehrt insofern den eigentlichen Wesenskern von Csoma, als sein Leben von der Bereitschaft erfüllt war, ein höheres Ziel zum Wohl seiner Mitmenschen anzustreben, ohne dabei auf den eigenen Vorteil und Profit zu achten.
Duka, T. (1885). Life and Works of Alexander Csoma de Körös. A Biography chiefly compiled hitherto from Unpublished Data. Trübner & Co. https://www.google.ch/books/edition/Life_and_Works_of_Alexander_Csoma_de_Kor/solQmLgTst8C?hl=de&gbpv=1
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Die amerikanischen Wissenschaftler und New York Times Bestsellerautoren Goleman und Davidson (2017) haben durch ihre Forschung gezeigt, welche physischen und mentalen Veränderungen durch Meditation möglich sind. Beide hatten in den frühen 70er Jahren selbst einige meditative Erfahrungen in Indien gemacht. Angespornt durch diese Erfahrungen teilte Goleman 1974 seinem Harvard Professor mit, dass er sich in seiner Dissertation auf die Meditation fokussieren wolle. Dieser teilte ihm trocken mit, dass dies das Ende seiner akademischen Karriere bedeuten würde. Trotzdem blieb der Forscher seinem Interesse treu, auch wenn er diesbezüglich anfangs etwas unter dem Radar des akademischen Mainstreams flog. Bei Davidson war es vor allem der Dalai-Lama, welcher ihn motivierte, weniger die Ursachen von Neurosen, sondern eher diejenigen von positiven Geisteszuständen wie Mitgefühl mit anderen Lebewesen zu studieren. Dies brachte ihn dazu, sich eingehend mit den Auswirkungen der Meditation zu beschäftigen.
Das Interesse der beiden Wissenschaftler fiel mit einem wachsenden Trend zusammen, denn in den folgenden Jahrzehnten konnte sich die Erforschung der Veränderungen im menschlichen Körper und Geist durch Meditation zu einem eigentlichen Forschungszweig in der Hirnforschung («contemplative neuroscience») durchsetzen und die Anzahl der Publikationen nahm in einem hohen Ausmass zu:
In the 1970s, when we began publishing our research on meditation, there were just a handful of scientific articles on the topic. At last count there numbered 6’838 such articles, with a notable acceleration of late (Goleman & Davidson, 2017, 14).
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Goleman und Davidson (2017) sind in ihrer Deutlichkeit für viele überraschend. Sie zeigten, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen den in der Meditation wahrnehmbaren geistigen Zuständen und Prozessen und den untersuchten Hirnfunktionen gibt, was durch die Messung und Analyse von Gehirnströmen mittels Elektroenzephalografie (EEG) und die Untersuchung von Querschnittbildern des Gehirns durch Computer Tomographie konkret nachgewiesen werden kann. Je nach Art der Meditation und Dauer der Praxis (Stunden, Tage, Monate oder Jahre) ergeben sich entsprechende Resultate. Bei intensiver und längerfristiger Meditationspraxis verändern sich bestimmte Bereiche des Gehirns, sie können sich stärker ausformen und wachsen. Es lässt sich vergleichen mit einem Muskel, der umso stärker wächst und leistungsfähiger wird, je mehr wir ihn benutzen.
Goleman und Davidson erwähnen, dass nicht alle Studien über Meditation den wissenschaftlichen Kriterien standhalten: «After careful sifting, only 3 percent (that’s the 47 in the analysis) of the studies proved sufficiently well designed that they could be included in the review» (2017, 94). Selbst wenn wir jedoch nur die Resultate der ernst zu nehmenden Studien berücksichtigen, dann ergibt sich immer noch eine Flut von Resultaten, welche für die Wissenschaft wertvoll sind. Hierzu einige Beispiele: Schüler, welche einen zweiwöchigen Kurs in Achtsamkeit des Atmens («mindfulness of breathing») absolviert hatten, erreichten bei den nachfolgenden Eintrittsprüfungen für die Universität zu 30% bessere Noten als Schüler der Kontrollgruppe ohne Meditationserfahrung (Goleman & Davidson, 2017, 139). Verbesserte Achtsamkeit führt auch zu höherem emotionalen Wohlgefühl, einer gesteigerten Aufmerksamkeit bei Tätigkeiten des täglichen Lebens und zu einem deutlich gesteigerten therapeutischen Erfolg bei Depressionen – um nur einige weitere Vorteile zu nennen.
Während bereits kürzere, tägliche Meditationssitzungen zu erstaunlichen Resultaten führen können, ist der Erfolg bei Langzeitmeditierenden naturgemäss umso grösser. Was bei Anfängern noch viel Geduld und Anstrengung erfordert, um eine verbesserte Achtsamkeit und Konzentration zu erreichen, fällt dem oder der erfahrenen Meditierenden bedeutend leichter, so wie eine erfahrene Violinistin auch schwierige Passagen mit einer gewissen Leichtigkeit und spontanen Virtuosität spielen kann. Eine nachhaltige Verbesserung der mentalen Fähigkeiten kann jedoch nur durch eine kontinuierliche Praxis erreicht werden. Goleman und Davidson (2017) verdeutlichen den Zusammenhang zwischen der Intensität der Meditationspraxis und den resultierenden mentalen Fähigkeiten, indem sie verschiedene Kategorien von Meditierenden in Studien miteinander vergleichen: Eine mögliche Unterscheidung ist diejenige zwischen:
Langzeitmeditierende zeichnen sich durch erstaunliche mentale Fähigkeiten und besondere Veränderungen der Gehirnstruktur und Gehirnfunktionen aus. Bei einem Versuch mit tibetischen Yogis mit weit über 10’000 Stunden Meditationspraxis machten Richard Davidson und Antoine Lutz eine bahnbrechende Beobachtung: Bei den Yogis konnte mithilfe der Elektroenzephalografie (EEG) eine viel höhere Intensität bei den Gamma Gehirnwellen als bei der Kontrollgruppe (ohne Meditationserfahrung) gemessen werden:
The contrast between the yogis and controls in the intensity of gamma was immense: on average the yogis had twenty-five times greater amplitude gamma oscillations during baseline compared with the control group.
We can only make conjectures about what state of consciousness this reflects: yogis like Mingyur (Rinpoche) seem to experience an ongoing state of open, rich awareness during their daily lives, not just when they meditate. The yogis themselves have described it as a spaciousness and vastness in their experience, as if all their senses were wide open to the full, rich panorama of experiences (Goleman & Davidson, 2017, 233).
Der Nachweis, dass sich das Gehirn durch Meditation verändern kann, was mit einer verbesserten Leistungsfähigkeit einhergeht, hat im Westen geholfen, die Meditation aus der Ecke der obskuren, esoterischen Praktiken hervorzuholen und gesellschaftsfähiger zu machen. Die grössere Akzeptanz wurde auch durch angepasste, von religiösen Attributen und Werten befreite Angebote geschaffen. Heute ist Meditation, insbesondere die Achtsamkeitsmeditation, wie Yoga zum Lifestyle Hype geworden. 2017, im selben Jahr wie die Publikation des erwähnten Buches von Goleman und Davidson, prangte auf einer der Titelseiten der populären deutschen Zeitschrift Stern die Überschrift: «Stark durch Meditation. Wie Millionen Menschen mit ihr besser leben. Und wie man sie ganz einfach lernen kann.»
Für die Vermarktung von Achtsamkeit wurde von Kritikern der Begriff «McMindfulness» geprägt, welcher sich auf die Aneignung, Zertifizierung und den Vertrieb einer buddhistischen Methode bezieht, wobei der ursprünglich buddhistische Hintergrund ausgeblendet wird. Bei der breiten Propaganda auf verschiedenen Ebenen, von wissenschaftlichen Artikeln bis hin zu feuilletonistischen Artikeln und Fernsehsendungen, war es nur ein kleiner Schritt bis zur Entwicklung von Achtsamkeits-Apps, welche mit vielversprechenden Titeln eine Persönlichkeitsoptimierung versprechen. Wer unter «Achtsamkeits-Apps» googelt, findet am 13. Oktober 2022 immerhin über 2’210’000 Ergebnisse.
Das bekannteste Achtsamkeitsprodukt ist die «Mindfulness-Based Stress Reduction» (MBSR), welche mit «Stressbewältigung durch Achtsamkeit» übersetzt wird. Die Methode ist vom amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickelt worden und enthält Elemente aus der buddhistischen Meditation, dem Yoga sowie aus psychotherapeutischen Methoden. Sein Buch «Gesund durch Meditation» (Kabat-Zinn, 2013) ist weltweit bekannt geworden. Die zugrundeliegende MBSR Methode wird durch ein zertifiziertes Lehrangebot verbreitet. Ausgehend von guten Erfolgen mit schwerkranken Menschen in Spitälern, wurde die Methode – im Originaltitel wurde sie zutreffender Weise als «Full Catastrophe Living» bekannt – zunehmend auch in anderen Bereichen angewandt. Gerade im Gesundheitswesen war MBSR für Schwerkranke eine grosse Hilfe, aber auch für das behandelnde Personal, welches oft nicht das notwendig Rüstzeug besass, um mit dem mentalen Leiden und den physischen Schmerzen der Patientinnen und Patienten angepasst umzugehen. Ganz allgemein soll mit MBSR die eigene Achtsamkeit mit dem Ziel gefördert werden, im Alltag bewusst mit Stress, Ängsten und Problemen umgehen zu können. MBSR wird vor allem in den USA und in verschiedenen Ländern Europas vermittelt, hat aber auch den Weg zurück nach Indien, dem Ursprungsland der Achtsamkeitsmethode, gefunden.
Die Vermarktung der angepassten, standardisierten Achtsamkeitsprodukte (therapeutische Angebote und Apps) funktioniert nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ob sie alle halten, was sie versprechen, wird sich in der Zukunft zeigen.
Bei allem Respekt vor hart erarbeiteten wissenschaftlichen Resultaten in der Hirnforschung – welche nur respektiert werden, wenn sie auch messbar sind – erstaunt doch etwas, wie wenig die subjektiv erfahrbaren Erlebnisse und Einsichten der Meditierenden in die Studien mit einbezogen wurden. Die beiden buddhistischen Meditationsarten Samatha und Vipassanā sind mittlerweile seit rund 2’500 Jahren von unzähligen Meditierenden praktiziert und eingehend dokumentiert worden. Dazu gibt es erklärende Lehrreden und systematische Abhandlungen. Wenn die Perspektive erweitert wird und die Auswirkungen von Meditation auf das menschliche Leben aus Sicht der Praktizierenden beleuchtet werden, brauchen letztere die Erkenntnisse der Hirnforschung natürlich nicht. Sie wissen auch ohne quantifizierbare Forschungsergebnisse der Gehirnforschung, dass Meditation zu wahrnehmbaren Resultaten führt. Thupten Jinpa Langri, welcher Mönchsgelehrter, Übersetzer des Dalai Lama und namhafter Wissenschaftler ist, bringt es in einem Interview auf den Punkt:
For practicing Buddhists, why would you need third-person proof to show that your own practice is helping you? In the end, when it comes to spiritual practice, you are your own best proof. Individual practitioners can understand from their own personal experience that practice is helping them to be more understanding, to be more open, to be more at home with others, or to have a greater sense of ease. From my … point of view, these effects are much more powerful as a source of motivation than a scientific study that uses a scanner to show that when you meditate, things happen in your brain. Why would that help you? (Heuman, 2014, 121-22).
Die gehirnwissenschaftliche Perspektive basiert vorwiegend auf der reduktionistischen Annahme, dass sich geistige Phänomene auf neuronale Prozesse im Gehirn zurückführen lassen. Roth, Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologe am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen, sagt:
Wir müssen Geist und Bewusstsein als einen physikalischen Zustand ansehen, denn sonst könnten sie nicht mit den physikalischen Zuständen des Gehirns wechselwirken, was sie eindeutig tun. Die physikalischen «Bausteine» des Geistes sind bisher unbekannt, aber das ist bei der Gravitation auch der Fall (2021, 340).
Bei der Wahrnehmung von äusseren oder inneren Objekten handelt es sich um einen subjektiv erfahrbaren Prozess. Wenn wir beispielsweise den Geruch von Kaffee riechen, sind wir uns dessen bewusst, ohne zu wissen, dass etwas im Gehirn abläuft. Ebenso verhält es sich mit den anderen Sinneswahrnehmungen wie dem Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken. Die Sinneswahrnehmungen und das Bewusstsein davon werden nicht als physikalische Zustände empfunden, sondern als subjektive Erfahrungen, auch wenn korrelierende physische Prozesse offensichtlich sind. Um weiter Licht in die Natur der physischen und geistigen Phänomene und ihre Interdependenz zu bringen, schlagen Ricard und Thuan einen vertieften Dialog zwischen Wissenschaftlern und praktizierenden Buddhisten vor, einen Dialog, wie sie ihn im Buch “The Quantum and the Lotus” (2001) vorgegeben haben. Darin schreibt Ricard:
To my mind, the most fascinating part of this confrontation between natural sciences and Buddhism is in the analysis of the ultimate nature of things. I have learned a lot from our conversations. They have forced me to confront new questions concerning our two disciplines – particularly when it comes to the nature of consciousness and the interdependence of phenomena, which lies at the heart of both modern physics and Buddhist teachings. The nature of consciousness remains a fascinating subject. Can it be totally reduced to the brain? Is it a phenomenon that emerges from matter? Can it – as Buddhism thinks – only be born from preceding instants of consciousness and continue without a physical framework? Buddhist contemplatives speak of different levels of consciousness, which they have defined according to genuine introspective experiments. Their method deserves to be studied by researchers who base their work on science’s empirical approach. Until recently, the lack of contemplative experience by most scientists who have investigated the workings of the mind has led nowhere in understanding the nature of consciousness. From a Buddhist perspective, it seems much more reliable and informative to train the mind to investigate itself, since it thus has direct access to mental events and to its ultimate nature, than to monitor from the outside the corresponding activities of the brain (Ricard & Thuan, 2001, 269).
Als erhellender Dialog zwischen dem renommierten Gehirnwissenschaftler Wolf Singer, dem ehemaligen Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am Max-Plank-Institut für Hirnforschung, und dem buddhistischen Mönchsgelehrten und studierten Molekularbiologen Matthieu Ricard, sei hier auch die Publikation über “Gehirnforschung und Meditation” (Singer & Ricard, 2008) erwähnt.
Der Mathematiker und Philosoph David Chalmers ist ein bedeutender Kritiker des etablierten Materialismus in der Hirn- und Bewusstseinsforschung. Seiner Ansicht nach gibt es ein schwieriges Problem des Bewusstseins, das sogenannte «hard problem», weil sich nicht erklären lässt, wie physikalische Prozesse des Gehirns bewusste, subjektive Erfahrungen erzeugen können. Obwohl Wissenschaftler beginnen, sich vermehrt mit dem Bewusstsein zu beschäftigen, bleiben sie meistens auf der Ebene von reduktionistischen Korrelationen, ohne eine vollständige Erklärung des Phänomens geben zu können. Gemäss Chalmers könnte es sich beim Bewusstsein jedoch um ein noch unbekanntes, fundamentales Element handeln, wie Raum, Zeit und Masse in der Physik. Er vertritt die gewagte Annahme («crazy idea»), dass die fundamentale Natur des Bewusstseins universal allen Phänomenen zugrunde liegen könnte. Diese Art von «Panpsychismus» ist die Grundlage für eine andere Sichtweise in der Bewusstseinsforschung und für ein neues Menschenbild. Bewusstsein ist demnach das Element, welches dem Materiellen Leben einhaucht. Es ist anzunehmen, dass die Entschlüsselung des Bewusstseins auf der Grundlage des Panpsychismus, falls das Ziel überhaupt erreicht werden kann, noch viele Jahre brauchen wird. Chalmers hat viele Artikel und einige Bücher zum Thema Bewusstsein geschrieben. Für einen Einstieg in die Thematik sei auf folgendes Video (“Hard Problem of Consciousness”) verwiesen: https://www.youtube.com/watch?v=C5DfnIjZPGw&t=155s&ab_channel=SeriousScience
Die Frage, ob Körper und Geist verschiedene Substanzen sind, ist uralt. Bei philosophischen Traditionen und Religionen, welche von einer Dualität von Körper und Geist ausgehen, gibt es eine Vielzahl von Hypothesen, was die Natur der beiden Entitäten angeht und wie sie sich zueinander verhalten.
In den Lehrreden Buddhas kommt das Thema von Körper und Seele ebenfalls vor. Auf die Fragen «Ist die Seele (jīva) das gleiche wie der Körper?» und «Ist die Seele eine Sache und der Körper eine andere?» hat sich Buddha nicht eingelassen (Majjhima Nikāya 63). Buddhas Haltung gegenüber philosophischen und weltanschaulichen Spekulationen fasst der kanadische Mönchsgelehrte Punnadhammo Mahāthero folgendermassen zusammen:
The Buddha’s teaching is always first and foremost a practical one. The emphasis is not on metaphysical determinations about ultimate reality, but about how we can liberate ourselves from the suffering of the conditioned world. This means that the subjective side of the question must take priority. Ultimate reality may be an undecidable issue but we can ask, what is real for the observer? (2018, 705).
Ausgehend von den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften über Meditation habe ich versucht, einige der sich ergebenden Positionen und Fragen zu formulieren. Dieser Versuch bietet keinesfalls ein vollständiges Bild, kann jedoch einen Einblick geben, wo wir gegenwärtig in der Debatte stehen. Es ist zu hoffen, dass sich die Dynamik des Dialogs weiter entwickeln und zu weiteren Erkenntnissen führen wird. Der Blog-Beitrag über die Vipassanā Meditation (derzeit noch in Bearbeitung) soll die Aussensicht der Naturwissenschaften durch eine Innensicht praktizierender Buddhisten ergänzen.
Literatur
Chalmers, D.J. (2016). Hard Problem of Connsciousness. Serious Science, Video: The Hard Problem of Consciousness – Serious Science (serious-science.org)
Goleman, D. & Davidson, R. J. (2017). Altered Traits: Science Reveals How Meditation Changes Your Mind, Brain and Body. Avery
Heuman. L. (May 2014, 116-133). Under One Umbrella, Can both tradition and science fit? An interview with Thupten Jinpa Langri. In: Shifting the Ground We Stand On: Buddhist and Western Thinkers Challenge Modernity. Essays by Linda Heuman. A Tricycle E-Book. https://tricycle.org/ebooks/buddhism-science/
Kabat-Zinn, J. (2013). Gesund durch Meditation: Das vollständige
Grundlagenwerk zu MBSR. O.W. Barth Verlag. (6. Auflage, Erweiterte Neuausgabe)
Majjhima Nikāya 63: Cūlamālunkya Sutta, Der Sohn der Malunkya I. https://www.palikanon.com/majjhima/m063n.htm
Punnadhammo, Mahāthero. (2018). The Buddhist Cosmos: A Comprehensive Survey of the Early Buddhist Worldview; according to Theravāda and Sarvāstivāda sources. Arrow River Forest Hermitage. https://www.arrowriver.ca/book/cosmo.pdf
Ricard, M. & Thuan, T. X. (2001). The Quantum and the Lotus, A Journey to the Frontiers where Science and Buddhism Meet. Crown Publishers
Roth, G. (2021). Über den Menschen. Suhrkamp
Singer, W. & Ricard, M. (2008). Hirnforschung und Meditation. Ein Dialog. Edition Unseld, Suhrkamp